Herr Dr. Brennecke, ist die Affäre Aiwanger erledigt?
Carsten Brennecke: Nein, denn die besteht nicht nur aus dem Fall Aiwanger – sondern auch aus dem Fall Süddeutsche Zeitung, deren Berichterstattung von Beginn an seltsam inszeniert, ja gar rechtswidrig war.
„Rechtswidrig“?
Brennecke: Ja, presserechtlich gleicht sie einem Elfmeter ohne Torwart: Unsere Kanzlei hat bereits in etlichen Fällen eine Berichterstattung gleicher Art gerichtlich verbieten lassen.
Aber sogenannte Verdachtsberichterstattung ist doch rechtlich zulässig.
Brennecke: Stimmt, doch gelten auch für sie Regeln, die der Bundesgerichtshof definiert hat. Die Presse darf über einen Verdacht berichten, muß aber zuvor die Beschuldigten zu allen Verdachtsmomenten hören und ihre Stellungnahmen veröffentlichen.
In der Sendung von Markus Lanz hat „SZ“-Chefreporter Roman Deininger der Fernsehnation allerdings gerade das Gegenteil erklärt, nämlich daß die Berichterstattung seines Blattes sich vollauf bestätigt habe.
Brennecke: Lassen Sie sich davon nicht täuschen, das ist ein klassischer Fall von Krisen-PR, ein „Rückzugsgefecht“. Tatsächlich schadet die Agenda-Berichterstattung der SZ der Glaubwürdigkeit der Presse insgesamt.
Was werfen Sie der „Süddeutschen“ denn nun vor?
Brennecke: Daß ihr Online-Artikel „Das Auschwitz-Pamphlet“ vom 25. August, der den Fall ins Rollen gebracht hat, das Dementi Aiwangers hinter einer Bezahlschranke versteckt hat. Während dagegen die Vorwürfe der SZ gegen Aiwanger im Einleitungstext zu dem Artikel – dem „Anreißer“ – von der Bezahlschranke unberührt für jeden frei lesbar waren. Die Folge war, daß die meisten Leser gar nicht mitbekamen, daß Aiwanger den Hauptvorwurf, er sei Urheber des abscheulichen Flugblattes, von Anfang an dementiert hat. Diese Einseitigkeit hat genau das bewirkt, was der Bundesgerichtshof verbietet: eine Vorverurteilung, wie sie dann in den sozialen Netzwerken zu beobachten war, wo viele über Aiwanger sogleich den Stab brachen. Darunter etliche Politiker, etwa die ehemalige Berliner SPD-Staatsministerin Sawsan Chebli, die auf dem von Twitter in „X“ umbenannten Kurznachrichtendienst sofort behauptete, Aiwanger sei Verfasser des Flugblattes, anstatt richtigerweise von einem Verdacht zu sprechen. Was sie erst nach Kritik wieder löschte, wohl um ihr Fremdeln mit der Unschuldsvermutung und den Grundsätzen unseres Rechtsstaats zu kaschieren.
Allerdings hat die „SZ“ ihren Fehler doch korrigiert.
Brennecke: Richtig – doch viel zu spät, nämlich erst am Nachmittag des nächsten Tages! Da hatten aber schon Tausende den Artikel aufgerufen. Die SZ ist mit dem Beitrag an einem frühen Samstagabend online gegangen. Warum zu dieser Zeit? Weil da das Internet „glüht“, die Zugriffszahlen am höchsten sind. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich so die Nachricht über Aiwanger und das Flugblatt in den sozialen Medien und Zigtausende besuchten die Seite der SZ, um den Artikel zu lesen – doch wegen der Bezahlschranke bekamen sie nur den einseitigen Anreißer, nicht aber den gesamten Artikeltext mit Aiwangers Dementi zu sehen. Und von der Korrektur des Anreißers einen Tag später dürften die meisten gar nichts mitbekommen haben. Natürlich hat sich Aiwangers Dementi inzwischen herumgesprochen, das ändert aber nichts daran, daß das Verhalten der SZ eindeutig rechtswidrig war. Im übrigen habe nicht nur ich gleich nach Erscheinen des Artikels in den sozialen Netzwerken mit erheblicher Breitenwirkung darauf hingewiesen, daß der Beitrag in dieser Form rechtswidrig sei. Das muß also nach kurzer Zeit auch der SZ zu Ohren gekommen sein. Warum aber erfolgte die Korrektur dennoch erst fast einen ganzen Tag später?
Was vermuten Sie?
Brennecke: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Zumal die eigentliche Frage ist, warum der Fehler überhaupt passiert ist? Denn daß die Presse ein Dementi nicht verschweigen darf, ist spätestens seit einem Urteil des Bundesgerichtshofs bekannt, das ich mit erstritten habe – und zwar bereits vor etwa eineinhalb Jahren. Das ist also nichts Neues, und somit ist es unwahrscheinlich, daß die Zuständigen bei der SZ davon nichts gewußt haben. Hinzu kommt, daß die meisten Medien durch einen Transparenzhinweis unter dem Text darüber informieren, wenn sie diesen nachträglich korrigieren. Doch nicht so die SZ – und das ausgerechnet bei einem Text dieser Tragweite. Was erneut Zweifel an ihrer Seriosität sät. Und was war die Folge davon, daß sie nicht darüber aufklärte, den Anreißer korrigiert zu haben, indem dieser nun auf Aiwangers Dementi hinwies? Wer in den sozialen Netzwerken von meinem Vorwurf gegen die SZ las und daraufhin neugierig auf deren Artikel – mit dem inzwischen korrigierten Anreißer – klickte, konnte wegen des fehlenden Änderungshinweises den falschen Eindruck gewinnen, mein Vorwurf, das Dementi sei verschwiegen worden, sei erlogen gewesen. So ist es zum Beispiel dem Schauspieler Marcus Mittermeier ergangen.
Etliche Kritiker werfen der „SZ“ in den sozialen Medien vor, daß die in ihrem Artikel präsentierten Zeugen, die Aiwanger belasten, anonym bleiben. Zu Recht?
Brennecke: Nein, denn das ist zulässig – solange der Beschuldigte in der Lage ist, die Vorwürfe zu überprüfen. Was hier aber der Fall ist, denn Aiwanger muß ja wissen, welche Vorwürfe gegen ihn zutreffen. Allerdings sehe ich anderswo eine weitere Rechtswidrigkeit in der SZ-Berichterstattung: Einen Tag nach Erscheinen des ersten Artikels gegen Aiwanger folgte ein weiterer, der jenes Gutachten präsentierte, laut welchem das inkriminierte Flugblatt auf der gleichen Schreibmaschine geschrieben worden sein soll, auf der der junge Aiwanger auch eine Hausarbeit für die Schule verfaßt hat. Zu den Vorgaben des Bundesgerichtshofs für eine legitime Verdachtsberichterstattung gehört es, dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, Stellung zu nehmen. Der zweite Artikel enthielt mit dem Schreibmaschinengutachten einen neuen Vorwurf. Dazu hätte die SZ Aiwanger also auch anhören müssen. Seine Stellungnahme findet sich in dem Artikel aber nicht, und es ist auch nicht erwähnt, daß man Aiwanger dazu anhören wollte, er aber nicht geantwortet habe. Sollte also zutreffen, daß eine Anhörung versäumt worden ist, wäre neben der Anreißer-Sache des ersten Artikels zudem der gesamte zweite Artikel rechtswidrig.
Und wenn Aiwanger doch versäumt hat, zu antworten?
Brennecke: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich, da sein wichtigstes Argument schließlich ist, daß sein Bruder den Text getippt habe. Da würde er sich wohl kaum die Gelegenheit entgehen lassen, das so in einer Stellungnahme darzustellen.
Was verlangt der Bundesgerichtshof noch für eine rechtskonforme Verdachtsberichterstattung?
Brennecke: Ein weiteres Kriterium ist, daß diese nicht vorverurteilend ist. Das Problem ist allerdings, daß dies in hohem Maße eine Ermessensfrage ist – sprich, im Klagefall schaut sich der Richter einen Beitrag an und bewertet ihn.
Der „SZ“-Beitrag rückt Aiwanger klar in ein schlechtes Licht, etwa durch ein einschlägiges Foto, das Demagogie sowie, durch manipulative Sprache, brutale Rücksichtslosigkeit suggeriert, etwa: „Er krempelt die Ärmel hoch, wie ein Metzger, der gleich die Sau zerlegt.“ Ist das nicht bereits vorverurteilend?
Brennecke: Nein, unsympathische Fotos und negative Sprachbilder sind alleine nicht relevant. Aber wenn ein Artikel Beschreibungen so verdichtet, daß der Leser glauben muß, es liege nicht nur ein Verdacht vor, sondern der Betroffene sei überführt, dann ist ein Artikel vorverurteilend. Das ist auch dann der Fall, wenn er einseitig ist, weil das Dementi verschwiegen wird.
Verdachtsberichterstattung muß also den Beschuldigten zu Wort kommen lassen und darf nicht vorverurteilend sein. Ist das alles?
Brennecke: Es muß überhaupt ein Mindestmaß an Beweistatsachen vorliegen, damit über einen Verdacht berichtet werden darf. Im Fall Aiwanger ist das mit dem Flugblatt der Fall. Anders war das aber etwa beim Streit um die Spiegel-Berichterstattung – und übrigens auch die der Süddeutschen Zeitung – über Rammstein und Till Lindemann. Hier hat das Gericht Passagen mit der Begründung untersagt, daß diese etwas insinuieren, was durch die Aussagen der Frauen, die vor Gericht vorgelegt wurden, gar nicht gedeckt war.
Es bleibt also bei den zwei von Ihnen genannten Punkten als der Grundlage für Ihren Vorwurf, die Verdachtsberichterstattung der „SZ“ sei teilweise rechtswidrig?
Brennecke: Ja. Und ich habe noch einen weiteren Kritikpunkt, wenn auch nicht rechtlicher Art. Doch auch der zeigt, daß sich die SZ in Sachen Aiwanger-Berichterstattung vom seriösen Journalismus verabschiedet hat.
Nämlich?
Brennecke: Ich kritisiere ihre seltsam inszenierte, weil zeitlich gestückelte Berichterstattung. Und diese Inszenierung kritisiere nicht nur ich, sondern auch der renommierte Medienjournalist Stefan Niggemeier, der als eher linker Journalist wohl ebensowenig wie ich als Mitglied der Grünen im Verdacht steht, Aiwanger politisch nahezustehen: Warum wurde das Schreibmaschinengutachten von der SZ erst einen Tag später im zweiten Artikel präsentiert und nicht schon im ersten Artikel? Gut, es könnte theoretisch erst einen Tag später fertig gewesen sein, aber das glaube ich nicht. Denn hätte man dann nicht seriöserweise den ersten Artikel einfach 24 Stunden später veröffentlicht, um mit dem Gutachten die Vorwürfe darin weiter zu erhärten? Sie sehen, es ist äußerst unwahrscheinlich, daß es für die separate Veröffentlichung einen stichhaltigen Grund gibt. Zumal ich und andere diese Frage auch schon mehrfach in den sozialen Netzwerken gestellt haben, ohne daß die SZ sich bis heute dazu erklärt hätte. Und daher nehme ich an, daß es sich um eine Falle handelte.
Eine „Falle“?
Brennecke: Möglicherweise sollte Aiwanger dazu verleitet werden, auf den ersten Artikel hin erneut zu dementieren – um ihn dann mit dem zweiten Artikel, der das Gutachten präsentiert, ans Kreuz zu nageln. Das aber wäre kein seriöser Journalismus mehr, denn dieser bedingt, eine Sache hieb- und stichfest zu recherchieren und dann alle Ergebnisse komplett auf den Tisch zulegen. Ergebnisse aber gestückelt zu veröffentlichen, damit sie eine bestimmte Wirkung entfalten, ist kein Journalismus mehr, sondern blanker Aktivismus.
Damit zum Beispiel hätte Markus Lanz Herrn Deininger mal konfrontieren sollen!
Brennecke: In der Tat, denn es wäre angesichts all dieser Widersprüche zur Abwechslung mal an der SZ, nun eben jene Transparenz zu üben, die sie sonst stets von denen einfordert, über die sie schreibt! Denn immer sind es andere, von denen das Blatt verlangt, daß sie aufhören sollen, zu mauern, Fehler zugeben und offene Fragen endlich beantworten sollen – also all das, was es selbst nun offensichtlich nicht bereit ist zu tun.
Wenn die zwei von Ihnen genannten Sachverhalte tatsächlich rechtlich relevant sind, warum geht Aiwanger dann nicht rechtlich gegen die „SZ“ vor?
Brennecke: Gute Frage, denn das könnte er selbst im Fall des Anreißers, also trotz dessen Korrektur, nachträglich noch tun – nur müssen Sie die ihm stellen. Ich kann nur spekulieren, vielleicht meint er, daß ihm das politisch nichts bringt? Allerdings finde ich Teile seines Krisenmanagements sowieso fragwürdig. Denn Krisen-PR muß grundsätzlich immer zwei Gruppen im Blick haben: die eigene Klientel und die breite Öffentlichkeit. Mit Blick auf die erste war Aiwangers Krisenmanagement, Stichwort „Schmutzkampagne“, genau richtig. Bezüglich der zweiten hat er aber so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann: Er hat viel zu langsam reagiert, folgte dabei auch noch der berüchtigten Salamitaktik und hat es nach meiner Ansicht zudem an Demut, Läuterung und Übernahme von Verantwortung fehlen lassen. Deshalb sehe ich Aiwanger durch die Krise zugleich gestärkt und geschwächt, je nachdem auf welche Gruppe man abstellt.
Was denken Sie als Mitglied der Grünen über die scharfen Urteile und Rücktrittsforderungen aus den Reihen Ihrer Partei gegenüber Aiwanger?
Brennecke: Daß ich eine rechtskonforme und unvoreingenommene Berichterstattung einfordere hat nichts damit zu tun, was ich politisch über den Fall denke. Sicher gibt es gute Gründe, seinen Rücktritt zu fordern, etwa die mangelhafte Kommunikation, die Aiwanger beim Umgang mit den Vorwürfen gezeigt hat. Was die Vorwürfe selbst angeht, hat für mich im Zweifel allerdings die Unschuldsvermutung zu gelten – ganz gleich ob es sich dabei um Aiwanger oder zum Beispiel jemanden aus meiner eigenen Partei handelt!
Glauben Sie ihm die Geschichte mit dem Bruder denn?
Brennecke: Sie nicht?
Nein. Aber SPD-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sagte 2001 der „Frankfurter Rundschau“: „Wir haben nicht das Recht, Menschen zu dauerhaften Gefangenen ihrer Geschichte zu machen“, weshalb er meine, daß selbst ein Skinhead einmal Minister werden könne, wenn dieser glaubhaft geläutert sei und sich für die Demokratie engagiere.
Brennecke: Dennoch wäre ich vorsichtig mit einem endgültigen Urteil. Denn so oft bin ich als Anwalt schon mit Geschichten konfrontiert worden, die äußerst unglaubwürdig erschienen und sich doch als wahr herausgestellt haben – sowie umgekehrt mit solchen, die sehr plausibel klangen und sich als Lug und Trug erwiesen. Ich würde es so formulieren: Bin ich überzeugt, daß Aiwanger die Wahrheit sagt? Nein. Habe ich andererseits Grund, seine Worte anzuzweifeln? Ebenfalls nein, denn es gibt jemanden, der bekennt, das Flugblatt verfaßt zu haben. Und zum Glück leben wir in einem Rechtsstaat mit Unschuldsvermutung. Die ist nicht nur eine juristische Finesse, sondern bedeutet, daß wir als Gesellschaft eine Entscheidung getroffen haben, nämlich dafür, den Menschen nicht voller Mißtrauen zu betrachten, sondern ihm mit einem Vertrauensvorschuß zu begegnen und an ihn zu glauben.
Dr. Carsten Brennecke, der Rechtsanwalt ist Mitinhaber und Gründungspartner der größten deutschen Kanzlei für Presserecht Höcker Rechtsanwälte in Köln. Unter anderem gehörte er zum Verteidigungsteam im Kachelmann- Prozeß und zeitweilig zum juristischen Beraterkreis des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Geboren wurde er 1975 in Frechen bei Köln.