© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/23 / 08. September 2023

Die verhinderten Fachkräfte
Erhöhung des Bürgergeldes: Der Staat verstärkt für Millionen die Anreize, keine Arbeit mehr aufzunehmen
Ulrich van Suntum

Kaum ist das Bürgergeld zu Beginn dieses Jahres eingeführt worden, winkt den Beziehern auch schon eine satte Erhöhung der Regelsätze. Um nicht weniger als zwölf Prozent im Durchschnitt sollen diese ab Januar 2024 steigen, ein Plus, von dem normale Arbeitnehmer nur träumen können. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) begründet dies mit der Inflation: Viele Bedürftige wüßten sonst nicht mehr, wie sie den Kühlschrank füllen oder dem Kind neue Schuhe kaufen sollten. Allerdings leiden Arbeitnehmer mit geringem Einkommen nicht weniger unter den steigenden Lebenshaltungskosten. Anders als den Bürgergeldempfängern bezahlt ihnen der Staat aber nicht auch noch Miete und Heizkosten, die ja besonders stark gestiegen sind. Die Ampel betreibe „Politik für Arbeitslose, nicht für Arbeiter“, sagt etwa Johannes Winkel, Vorsitzender der CDU-Nachwuchsorganisation Junge Union.

Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Zum einen ist die jährliche Anpassung des Bürgergelds gesetzlich vorgeschrieben. Zu 70 Prozent werden dabei die Lebenshaltungskosten und zu 30 Prozent die allgemeine Lohnentwicklung berücksichtigt. Zum anderen ist die Inflationsrate aktuell mit 6,2 Prozent zwar nur halb so hoch wie die jetzt beschlossene Regelsatz-Erhöhung. Aber in den Jahren zuvor fiel sie dafür nur vergleichsweise gering aus. Insgesamt stieg der Regelsatz für einen Alleinstehenden seit 2021 von damals 446 Euro auf 563 Euro im kommenden Jahr, wobei die aktuelle Erhöhung allein mit 61 Euro zu Buche schlägt. Damit hat sich der Regelsatz um rund 26 Prozent erhöht, was in etwa der Preissteigerung im entsprechenden Zeitraum entspricht.

Wahr bleibt aber, daß die Lohnentwicklung für die meisten Arbeitnehmer hinter dieser Erhöhung zurückbleiben wird. Sie kann den Anstieg der Lebenshaltungskosten auch gar nicht voll ausgleichen, ohne gesamtwirtschaftlich dafür an anderer Stelle finanzielle Löcher aufzureißen. Denn zumindest ein Teil der steigenden Lebenshaltungskosten hat realwirtschaftliche Ursachen, insbesondere die steigenden Energiekosten. Zudem kassiert auch der Staat die Bürger immer kräftiger ab mit Steuern, Abgaben und unwirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, etwa im Gebäudebereich. All dies sind Kosten, welche die Unternehmen ihren Arbeitnehmern nicht ersetzen können, ohne entsprechend selbst draufzuzahlen. 

Den Staat dagegen kostet die Bürgergelderhöhung letztlich nur einen Federstrich. Denn die 4,8 Milliarden Euro, welche dafür allein im nächsten Jahr fällig werden, muß am Ende natürlich wiederum die arbeitende Bevölkerung bezahlen. Schon jetzt müssen knapp 44 Milliarden Euro pro Jahr allein für das Bürgergeld aufgebracht werden. Hinzu kommen die Kosten für nichtanerkannte Asylbewerber. Diese erhalten zunächst etwas niedrigere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die aber ebenfalls im nächsten Jahr um zwölf Prozent aufgestockt werden müssen.

Das eigentliche Problem des Bürgergelds sind aber nicht die Kosten, sondern die mangelnden Arbeitsanreize, welche damit verbunden sind. Insgesamt beziehen nicht weniger als 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld in Deutschland. Dabei ist der Großteil von ihnen (3,9 Millionen) erwerbsfähig und könnte somit durchaus arbeiten gehen. Auch an entsprechenden Arbeitsplätzen fehlt es derzeit nicht, anders als es immer wieder behauptet wird. Überall werden vielmehr händeringend Arbeitskräfte gesucht, gerade auch für niedrigqualifizierte Tätigkeiten.

Das zentrale Problem ist aber, daß sich die Aufnahme einer solchen Tätigkeit für die meisten Bürgergeldempfänger einfach nicht lohnt. Speziell wenn Kinder im Haushalt leben, kann der Lohnabstand sogar negativ werden, wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft kürzlich vorgerechnet hat. Zwar haben Geringverdiener in diesem Fall die Möglichkeit, ergänzendes Wohn- und Bürgergeld zu beantragen. Aber wer weiß beziehungweise tut das in der Praxis schon, zumal auch dann nur wenige hundert Euro mehr in der Haushaltskasse landen gegenüber dem Bürgergeldbezug mit Nichtstun. Der effektive Stundenlohn würde für den Arbeitswilligen nur um die zwei Euro betragen, so das Kieler Institut. Kein Wunder, daß die meisten unter diesen Umständen lieber zu Hause bleiben und schwarzarbeiten. Die jetzt beschlossene Erhöhung der Regelsätze wird diese Problematik weiter verschärfen.

Das ist um so schlimmer, als dadurch auch eine Integration der Migranten immer schwieriger wird. Während 5,3 Prozent der Deutschen Bürgergeld beziehen, ist es bei Syrern und Afghanen etwa jeder zweite (47,1 beziehungsweise 55,1 Prozent). Bei den (allerdings überwiegend weiblichen) Flüchtlingen aus der Ukraine liegt die Quote sogar bei zwei Dritteln (65,6 Prozent). Sie alle lernen schnell, daß man im Gegensatz zu ihren Heimatländern in Deutschland auch ohne Arbeit ganz gut leben kann. Und wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, wird es statistisch nachweisbar immer schwieriger, aus dieser „Armutsfalle“ wieder herauszufinden. Also müßte hier dringend etwas getan werden, auch im Interesse der Betroffenen selbst.

Von erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehern sollte man verlangen können, daß sie im Rahmen ihrer Fähigkeiten ihre Zeit produktiv einsetzen, zum eigenen Wohl und dem der Allgemeinheit. In Ländern wie den Niederlanden oder Dänemark ist das eine Selbstverständlichkeit. Je nach Einzelfall könnte man dabei die Wahl lassen zwischen einem regulären Job, sinnvoller Fortbildung, wie etwa einem Intensivsprachkurs, oder eben gemeinnütziger Arbeit. Denkbar wäre es auch, Leistungsbezieher in eine der vielen offenen Stellen zu bringen, indem die zuständige Kommune sie quasi dorthin verleiht. Der Lohn würde dabei an die Kommune fließen, die ihrerseits dem Leistungsbezieher davon einen Teil als finanziellen Anreiz beläßt. Damit wäre der Kontakt zum regulären Arbeitsmarkt hergestellt, und es würden sinnvolle Tätigkeiten ausgeführt statt „Blätterfegen“. Zugleich würde dem Arbeitskräftemangel in vielen Bereichen entgegengewirkt. Verdrängungseffekte gäbe es nicht, weil ja auch der Bürgergeld-Leiharbeiter den Arbeitgeber den vollen Lohnsatz kostet.

Wenn solche Modelle funktionieren sollen, müßten Leistungsverweigerer natürlich mit wirksamen Sanktionen belegt werden. Genau das wurde allerdings bei der Einführung des Bürgergelds weitgehend unmöglich gemacht. Solange dies so bleibt, kann sich daher die Politik ihre Krokodilstränen über die angeblich „Abgehängten“ unserer Gesellschaft sparen.