Bedrohte Üblichkeiten. Nach dem berühmten „Böckenförde-Paradox“ beruht der Bestand des freiheitlichen, säkularisierten Rechtsstaats auf historisch über viele Generationen gewachsenen ethnisch-kulturellen Voraussetzungen, die er selbst weder herstellen noch garantieren kann. Für den Philosophen Michael Esders sind solche überlieferten „Üblichkeiten“ vor allem in den „Fraglosigkeitszonen“ im Westen verschärften Angriffen jener „progressiven Kräfte“ ausgesetzt, die sie einer „Großen Transformation“ unterwerfen wollen. Am Ende dieses von globalen Oligarchen organisierten, „historisch einzigartigen Experiments, eine monoethnische, monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln“ (Yascha Mounk 2018) und zugleich mit Volk, Nation und Leitkultur alle anderen „Normalitäten“ wie Geschlecht, Familie, Sprache, Moral, Glauben außer Kraft zu setzen, stünde eine sozialtechnologisch kontrollierte, digital überwachte Masse herkunfts- und geschichtsloser Gattungsteilnehmer. Dieser Prozeß der „Entüblichung“ ist allerdings kein exklusiv postmodernes Phänomen, wie Esders’ „Positionsbestimmung konservativen Denkens“ suggeriert. Denn, wie es im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 heißt, die „ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung“, die „alles Ständische und Stehende verdampft“, „alle altwürdigen Vorstellungen und Anschauungen“ auflöst, gehört zur Wesenslogik des kapitalistischen Produktionsregimes. Der gegenwärtige Weltumbau überrascht daher nicht, sondern ergibt sich aus der Konsequenz dieses Systems. (wm)
Michael Esders: Ohne Bestand. Angriff auf die Lebenswelt. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Neuruppin 2022, gebunden, 283 Seiten, 24 Euro
Kanada. Auf den Spuren der europäischen Siedler, der Indianer und seiner eigenen Familiengeschichte durchquert Reiseschriftsteller Ludwig Witzani sechstausend Kilometer Kanada. Die Reise quer durch den zweitgrößten Staat der Erde beginnt in Toronto, Montreal und Québec im kanadischen Osten. Dann geht es mit dem Greyhoundbus eine Woche lang nach Westen bis nach Calgary in der kanadischen Provinz Alberta, ehe die Reise auf Vancouver Island am Pazifik endet. Der Leser, der dem Autor auf dieser Reise folgt, erlebt eine transkanadische Reise zu europäisch anmutenden Städten, endlosen Nadelwäldern und zu einigen der großen Seen. Der Autor beläßt es aber nicht bei der Erkundung der Gegenwart, sondern fragt auch nach dem geschichtlichen Gewordensein dessen, was ihm begegnet. Denn er trifft kaum einen Kanadier, der ihm nicht erzählen könnte, aus welcher Ecke von „good old Europe“ seine Vorfahren stammen. (an)
Ludwig Witzani: Kanada. Von Québec nach Vancouver. Epubli Verlag, Berlin 2023, broschiert, 252 Seiten, 14,95 Euro