© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/23 / 01. September 2023

Bösewichter und Opfer sauber verteilt
Éric Vuillard bereitet mit fiktionalisierten Fakten Frankreichs Kolonialzeit und den Vietnamkrieg auf / Kritik mit allzu manichäischen Strickmustern
Albrecht Rothacher

Dies ist ein irritierendes Büchlein. Es ist kein klassischer historischer Roman, sondern besteht aus zwei Dutzend vignettenartigen Kurzgeschichten, die alle um den französischen Indochinakrieg zumeist aus Sicht der Metropole und die Schlacht von Dien Bien Phu von 1954 kreisen. Der dicht gedrängte Stil von Vuillard suggeriert eine journalistische Authentizität (auf die schlichte Gemüter, wie die Amazon-Besprechungen dokumentieren, sofort hereinfallen). 

Tatsächlich aber bedient Vuillard mit seiner Fiktion Klischees. So sind es die ruchlosen Bänker der Banque d’Indochine und die inzestuösen bourgeoisen Pariser Cliquen von Kolonialindustriellen, die für den Krieg verantwortlich sind und sich die geschwätzigen, gefräßigen Politiker der Vierten Republik (ganz die gaullistische Propaganda!) und ebenfalls als Karikaturen gezeichnete idiotische Generäle als gefügige Hampelmänner halten. Der Einstieg des Buches beginnt stilgerecht dramatisch mit den angeblichen brutalen Mißhandlungen von Sklavenarbeitern der Michelin-Kautschukplantagen. Das gleiche manichäische Strickmuster bediente der mit Preisen überhäufte Autor mit seinen ähnlichen Kurzdarstellungen zur Eroberung des Inkareiches, der Kolonisierung des Kongo, dem Ersten Weltkrieg, dem Anschluß Österreichs ... Die Rollen der reaktionären weißen Bösewichter und der unschuldigen guten Opfer sind stets sauber verteilt. Praktischerweise kommen in seiner Erzählung Ho Tschi Minh und der Viet Minh als Handelnde so gut wie nicht vor. Die Opfer der Schlacht sind für ihn nur Vietnamesen (auf beiden Seiten) und nord-afrikanische Kolonialtruppen. Daß ein Viertel der französischen Kämpfer deutsche Fremdenlegionäre waren, die der französischen Kriegsgefangenschaft entkommen wollten, verschweigt er. Ebenso unerwähnt bleiben die Friedensverhandlungen von Pierre Mendès-France, dem es immerhin gelang, 1955 den Süden Vietnams, Laos und Kambodscha für zwei Jahrzehnte vor kommunistischen Diktaturen zu bewahren, auch wenn der kommunistische Norden das Genfer Abkommen sehr bald brach.

Natürlich haben auch Vuillards Märchen einen wahren Kern. So bestand das nach dem Krieg gesäuberte französische Offizierskorps im wesentlichen aus Leuten, die in der Résistance und in den Kolonien politisch loyal zu de Gaulle gehalten hatten und sich nicht durch Kampferfahrungen und militärische Expertise auszeichnen mußten. So entschied der Oberkommandierende General Henri Navarre nach Kartenlage den Bau der Festung Bien Dien Phu in einem Talkessel und überließ dem Viet Minh die damals noch vom Dschungel bedeckten Berge der Umgebung für seine Artilleriestellungen, der nach der Einkreisung aus sicherer Entfernung eine Feldstellung nach der anderen zerschiessen konnte. 

Wie Feldmarschall Paulus in Stalingrad verließ der örtliche Kommandeur Oberst Christian Marie de Castries während der Schlacht bis zum bitteren Ende auch nie seinen Bunker. Diese fatalen Fakten sind jedoch militärgeschichtlich längst bekannt und bedürfen nicht der Agitation des Eric Vuillard, der zudem seitenlang zu Randthemen abschweift, wie der Ermordung des Kongolesen Lumumba, nur um die Bösartigkeit des damaligen US-Außenministers John Foster Dulles, der die Franzosen unterstützte, zu illustrieren. Das Schlußkapitel ist wiederum ziemlich zusammenhanglos dem ruhmlosen Abzug der Amerikaner im Mai 1975 aus Saigon gewidmet, den wir im August 2021 in Kabul erneut erleben durften. Summa summarum ein von der Politischen Korrektheit geleitetes, unseriöses und ziemlich entbehrliches Werklein. 

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2023, gebunden, 139 Seiten, 20 Euro