Am 31. August 1983 um 0.25 Uhr startete eine Boeing 747 der südkoreanischen Korean Air Lines mit der Flugnummer KAL 007 vom John F. Kennedy International Airport in New York. Flugziel war die südkoreanische Hauptstadt Seoul, wo die Maschine nach einem Tankstopp in Anchorage (Alaska) am 1. September eintreffen sollte. An Bord befanden sich 29 Besatzungsmitglieder und 240 Passagiere, darunter 75 Südkoreaner, 61 US-Bürger, 28 Japaner, 23 Taiwanesen, 15 Filipinos, 12 Hongkong-Chinesen, zehn Kanadier, sechs Thailänder sowie zehn Passagiere aus weiteren acht Ländern. Prominentester Passagier an Bord war der US-amerikanische Kongreß-Abgeordnete Larry McDonald, damaliger Vorsitzender der antikommunistischen John-Birch-Society und ein Cousin des US-Generals George S. Patton.
Ein US-Aufklärungsflugzeug versetzte die Sowjets in Panik
Nach dem Tankstopp begingen die südkoreanischen Piloten einen verhängnisvollen Fehler, indem sie ihren Autopiloten zwar mit den richtigen Flugwendepunkten „fütterten“, ihn aber trotzdem in der alten Betriebsart „Kurs halten“ beließen. Unbemerkt von der Besatzung kam die Maschine somit immer weiter nördlich vom Kurs ab, drang in sowjetischen Luftraum ein und überflog die Halbinsel Kamtschatka. Zwar wurde dieser Überflug einer mit sowjetischen Militäranlagen gespickten Region von der sowjetischen Luftverteidigung bemerkt, und es stiegen gleich 4 Mig-23-Jäger zum Abfangen des Eindringlings auf. Jedoch kam den ahnungslosen Südkoreanern zugute, daß die sowjetischen Jäger mit nicht voll aufgefüllten Tanks starteten. Das sollte nämlich verhindern, daß ein Jägerpilot wie zuletzt 1976 der sowjetische Offizier Belenko mit seiner Mig-29 den Überflug nach Japan oder auf eine Insel im Pazifik schaffte, um zu desertieren.
Die vier Jäger fanden den koreanischen Airliner nicht schnell genug und mußten aus Treibstoffmangel landen. Die südkoreanische Maschine hatte inzwischen den sowjetischen Luftraum wieder verlassen und steuerte auf ihrem immer noch falschen Kurs erneut sowjetischen Luftraum an, diesmal über der Insel Sachalin. Die sowjetische Luftabwehr war plötzlich hellwach, denn östlich vor Kamtschatka hatte das südkoreanische Flugzeug den Kurs eines US-Militäraufklärers vom Typ RC-135 gekreuzt, welcher dort die Telemetriedaten des Starts einer sowjetischen Interkontinentalrakete vom Typ RS-12M Topol aufnehmen sollte. Die USA wollten dadurch beweisen, daß die Sowjetunion gegen den Salt-II-Vertrag verstieß. Verhängnisvollerweise begann man jetzt im Stab der sowjetischen Luftverteidigung im Fernen Osten zu glauben, hier Zeuge einer US-amerikanischen Provokation bzw. eines kreuzgefährlichen Spionagemanövers zu werden.
In der Sowjetunion war seit 1982 der erzkonservative vormalige KGB-Chef Juri Andropow neuer KPdSU-Generalsekretär. Andropow fuhr einen sturen Konfrontationskurs gegen den US-Präsidenten Ronald Reagan, der gleichfalls als alter „Kalter Krieger“ galt. Die Militärs der Sowjetunion fühlten sich mit Andropow im Rücken ermuntert, gegen jedwedes amerikanische Manöver gegenzuhalten. Folglich starteten sofort sowjetische Abfangjäger, als das südkoreanische Flugzeug über Sachalin erneut sowjetischen Luftraum durchquerte. Der sowjetische Pilot Major Gennadij Ossipowitsch feuerte zuerst aus seinen Bordkanonen auf die klar als Passagierflugzeug erkennbare Maschine und schoß mit zwei Luft-Luft-Raketen auf den Jet, die in unmittelbarer Nähe explodierten.
Wegen des darauf erfolgten Druckverlusts in der Kabine verlor das Flugzeug immer weiter an Höhe und verschwand gegen 18.38 Uhr am 1. September in den Gewässern vor Sachalin, welche die Sowjetunion als ihr Hoheitsgebiet beanspruchte. Als sich herausstellte, daß es sich beim abgeschossenen Flugzeug tatsächlich nur um eine harmlose südkoreanische Passagiermaschine und kein US-amerikanisches Spionageflugzeug handelte, begann man sowjetischerseits immer unglaubwürdiger zu lügen, um aus der unangenehmen Situation wieder herauszukommen.
Der Boeing-Abschuß forderte 269 Menschenleben
Zuerst hatte das vermeintliche Spionageflugzeug seinen Flug aufs offene Meer fortgesetzt, bevor man schließlich den Abschuß zugab. Dann hatte angeblich das Flugzeug keine Positionslichter geführt, der sowjetische Pilot habe es vergeblich angefunkt und massenhaft Warnschüsse abgegeben, bevor er letztlich zum Abschuß schritt. Doch alles war gelogen. Hektisch versuchten sowjetische Marinekräfte in Zusammenarbeit mit zivilen Tauchern aus 174 Meter Tiefe Geräte, Papiere und die Black-Boxen des Flugzeugs zu bergen, um doch noch die Spionagemission des Flugzeugs belegen zu können.
Inzwischen rollte eine massive amerikanisch-koreanische Welle von Gegenpropaganda an. Immerhin waren 269 Menschen gestorben, darunter 23 Kinder unter zwölf Jahren. US-Präsident Reagan sprach von einem „Akt der Barbarei“ und „unmenschlicher Brutalität“. Am 15. September entzog Reagan sowjetischen Flugzeugen für Flüge in die USA die Flugrechte. Der sowjetische Generalstabschef Nikolai Ogarkow gab eine sehr hilflose Figur ab, als er vor der internationalen Presse anhand von Schemen und Karten den Flugzeugabschuß rechtfertigen wollte. Die US-amerikanische UN-Botschafterin Jeane Kirkpatrick hingegen konnte in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates Tonbandmitschnitte des Sprechfunkverkehrs der sowjetischen Jagdflugzeuge präsentieren, welche alle sowjetischen Behauptungen klar widerlegten. Noch einmal kochte jetzt im zu Ende gehenden Kalten Krieg eine Phase akuter Konfrontation auf. Im Propagandakrieg um den Abschuß von KAL 007 erlitt die Sowjetunion eine klare Niederlage, was Andropows Nach-Nachfolger Gorbatschow letztlich auch bewog, gegenüber den USA und Präsident Reagan ab 1985 eine Politik der politischen Entspannung zu betreiben.