Die Ausstellungshalle der Fondation Leclerc im bretonischen Landerneau ist zu einem Faktor des französischen Kulturlebens geworden. Und das, obwohl sie nicht nur weit von Paris, sondern überhaupt weit „vom Schuß“ in der westlichen Provinz liegt. Eine wesentliche Ursache dafür ist das Geschick der Verantwortlichen, mit dem es ihnen seit 2012 gelingt, umfangreiche Präsentationen bestimmter Themen oder Künstler zu zeigen.
Wer in den vergangenen Jahren die Ausstellungen zum Werk Alberto Giacomettis, Joan Mirós oder Henry Moores gesehen hat, der weiß, daß mancher erhebliche Strecken auf sich nimmt, um nach Landerneau zu kommen. Das Publikum, das man in der Regel erwarten darf, besteht aus Liebhabern und Spezialisten, Interessierten und dem einen oder anderen Touristen, der einen Regentag sinnvoll verbringen möchte.
Die christliche Überlieferung und die heidnische Vorzeit integriert
Das ist im Fall der aktuellen Ausstellung anders. Selten dürfte der Andrang so groß und die Schar der Besucher so bunt gemischt gewesen sein, unter Einschluß vieler, die sich sonst weder in Galerien noch Museen verirren. Da sind Neugierige und Fantasy-Liebhaber, ergraute Tolkien-Verehrer und Kinder wie Halbwüchsige, die ihre Eltern oder Großeltern genötigt haben. Die Ursache ist die Ausstellung von mehr als 250 Werken des Kanadiers John Howe, der zu den wenigen „offiziellen“ Illustratoren der Bücher John R. R. Tolkiens gehört und auch wichtige Entwürfe für die letzte Verfilmung von „Der Hobbit“ und des „Herrn der Ringe“ geliefert hat.
Howe, 1957 in Vancouver geboren, studierte an der Ecole des Arts Décoratifs (Hochschule der Künste) in Straßburg. In Landerneau kommt er im Rahmen einer umfangreichen Dokumentation selbst zu Wort und erläutert seinen Werdegang als Maler und Illustrator. Ein Schlüssel dürfte die Anziehungskraft sein, die das Mittelalter schon in jungen Jahren auf ihn ausgeübt hat, allerdings eher ein phantastisches Mittelalter als das tatsächliche: „In der Landschaft des Mittelalters der Imagination sind die Berge höher, die Meere tiefer, die Wolken bedrohlicher, die Aussichten sind spektakulärer, die Wälder heiliger, die Sterne spiegeln sich bei Nacht im Marmor und Porzellan, aus denen die Städte errichtet sind. Es ist eine unglaubliche Möglichkeit, in einer solchen geistigen Landschaft zu reisen.“
Als wichtige Vorbilder bezeichnet Howe die Begegnung mit den Präraffaeliten sowie der Arts and Crafts-Bewegung des 19. Jahrhunderts, die sich eine Art ideales gotisches Universum geschaffen hatten, das nicht nur die christliche Überlieferung integrierte, sondern auch die heidnische Vorzeit mit ihren Elfen, Hexen, Zauberern, Monstern und Dämonen. Die kulturelle Atmosphäre Großbritanniens war vor dem Ersten Weltkrieg ganz von diesen Bildern durchdrungen und hat schon auf den jungen Tolkien erheblichen Einfluß ausgeübt.
Daß er sich in der Folge auch wissenschaftlich mit den „Dunklen Jahrhunderten“ nach dem Abzug der Römer und dem Ende der Antike befaßt hat, fand ihren Niederschlag nicht zuletzt in seiner intensiven Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Beowulf-Dichtung. Auch das ist ein Thema, das Howe in eindrucksvolle Bilder umgesetzt hat, wobei vielleicht weniger die Szenen, die den Kampf gegen Grendel und seine Mutter zeigen, im Gedächtnis bleiben, eher das Gemälde, das darstellt, wie der tote Beowulf von seinen Gefährten zu Grabe getragen wird.
Zu den gemeinsamen Inspirationsquellen Howes wie Tolkiens gehören neben der keltischen und germanischen Überlieferung im allgemeinen und der Edda im besonderen auch deren Verarbeitung in den Opern Richard Wagners. Daß es zwischen Wagners „Ring des Nibelungen“ und Tolkiens Motiv des Rings der Macht Berührungen gibt, ist ebenso offenkundig, wie die Bedeutung, die dem Zusammenstoß zwischen dem Helden und dem Ungeheuer zukommt.
Die von Menschen geschaffene Ordnung bleibt fragil
Dem Thema „Drachen und Kreaturen“ ist in Landerneau eine eigene Abteilung gewidmet, deren Exponate zu den düstersten, aber auch zu den faszinierendsten der Ausstellung gehören. Wenngleich Howe hier nicht nur die europäische, sondern auch die asiatische Tradition zitiert, steht immer der Drache als Verkörperung der die menschliche Kraft übersteigenden Gefahr im Zentrum, die nur der Auserwählte überwinden kann. Zuletzt handelt es sich bei den zahllosen Variationen des Themas immer um denselben Archetypus, der in den Tiefenschichten der menschlichen Seele verankert ist, die weiß, wie fragil und unwahrscheinlich die von Menschen geschaffene Ordnung bleibt, wie mächtig und wahrscheinlich das Chaos.
Die Bedeutung Tolkiens für seine Arbeit hat Howe mit den Worten umrissen: „Tolkien schrieb mit Bildern, er schrieb nicht wirklich mit Worten, und es gibt nur wenige Autoren, die fähig sind, Bilder mit solcher Kraft zu zaubern. Es bedeutet eine Herausforderung, das auf der Leinwand wiederzugeben, weil das, was der Autor nicht schreibt so wichtig sein kann, wie das, was er ausdrückt.“
Gleich dem Schriftsteller ist der Maler ein unermüdlicher Arbeiter. Howe hat bis dato mehrere tausend Gemälde und Zeichnungen angefertigt, dazu zahllose Skizzen. Er hat den Aufbau von Rüstungen ebenso minutiös studiert wie den Ablauf des Schwertkampfs, und aufgrund seiner Beschäftigung mit der Anatomie von Mensch und Tier kann er seinen Mischwesen Proportionen geben, die ihre Bewegungen immer noch irgendwie natürlich erscheinen lassen. Howes Arbeiten sind nicht nur in technischer Hinsicht meisterhaft, sie gehen auch sonst weit über das Niveau dessen hinaus, was man in der Regel als Illustration des Fantasy-Genres zu sehen bekommt. Vielleicht wäre es angemessen, ihn als einen Symbolisten des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen.
Die Ausstellung „Sur les traces de Tolkien et de l’imaginaire médiéval – Peintures et dessins de John Howe“ ist bis zum 28. Januar 2024 im Fonds Hélène et Edouard Leclerc, Rue des Capucins, 29800 Landerneau täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der vorzüglich bebilderte Katalog (gebunden, 216 Seiten, 37 Euro) liegt nur in französischer Sprache vor, die Schrifttafeln in der Ausstellung bringen die Texte auf französisch und englisch.