Am Anfang beschenkte er seine Kinder mit Geschichten, am Ende die ganze Welt. John Ronald Reuel Tolkien, der seine vier Kinder gern mit selbst erfundenen Märchen erfreute, verlieh die zum Buch angewachsene Erzählung „Der kleine Hobbit“. Der mit eigenen Illustrationen versehene Text fiel einer ehemaligen Studentin in die Hände. Die legte ihn ihrem Arbeitgeber vor, dem Verlag Allen and Unwin. 1937 wurde er veröffentlicht und scharte sofort eine große Menge begeisterter Anhänger um sich. Schnell mußte etwas Neues her, um die auf den Appetit gekommene Leserschar erneut zu ergötzen. Schon seit seiner Jugend schrieb der Autor am „Silmarillion“, einer Sammlung selbst ersonnener Sagen und Mythen. Doch der Verlag winkte dankend ab. Zu salbungsvoll, zu wenig massentauglich erschien ihm das Legendenbuch. Bis zu seinem Lebensende schrieb der Autor an seinem Zentralwerk weiter; es blieb unvollendet.
Statt wegen der Absage in eine Schaffenskrise zu geraten, stürzte Tolkien sich auf ein Mammutprojekt, das ihm in seinen Grundzügen schon beim „Hobbit“ vor Augen gestanden haben muß: „Der Herr der Ringe“, eine Fortführung seines Erstlings mit vielen bekannten Figuren und einem monumentalen Endkampfszenario. Erneut ist es der weise Zauberer Gandalf, der die abenteuerliche Handlung in Gang bringt. Bilbo Beutlin, die Hauptfigur aus Tolkiens Debütroman, tritt den magischen Ring, den er in „Der kleine Hobbit“ an sich bringen konnte, an seinen Neffen Frodo ab. Der soll das Kleinod an einem dafür geeigneten Ort vernichten. Denn der Ring ist gefährlich. „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden“, heißt es in Tolkiens Ringgedicht, das als Leitmotiv am Anfang der Trilogie steht, noch vor dem Prolog. Der Ring ergreift nach und nach Besitz vom Geist dessen, der ihn trägt: eine unheimliche Macht, die gern gedeutet wird als Metapher für den technischen Fortschritt, mit dem Tolkien, unter dem Eindruck zweier Weltkriege, auf Kriegsfuß stand. Am Ende üben, so sah er es, neu entwickelte Technologien immer einen Zwang aus, sich der Welt zu bemächtigen – mit zerstörerischen Folgen.
Tolkien gilt als „very British“, doch nicht auf der berühmten Insel kam der Dichter 1892 zur Welt, sondern im südafrikanischen Bloemfontein, wo sein Vater als Geschäftsmann tätig war. Als Dreijähriger kam der Junge nach England. Es waren die prägenden Jahre: Vieles von der ländlichen Idylle im mittelenglischen Sarehole Mill diente als Inspiration für das Auenland, Heimat der Hobbits. 1900 wurde das Kind diesem Kindheitsparadies entrissen, weil die Familie – der Vater war in Südafrika verstorben – nach Birmingham zog. Dort wurden der alte Wasserturm und der Turm Perrott’s Folly zur Inspiration für die zwei Türme, denen der zweite „Herr der Ringe“-Band seinen Titel verdankt. 1904, als Tolkien zwölf Jahre alt war, starb auch seine Mutter.
Wörter, Wälder, Wildnis – das ist die Welt, die den Schüler des King Edward College in Birmingham fasziniert. Die von Andrew Lang herausgegebenen Märchen- und Mythensammlungen prägen seine Kindheit. Als College-Schüler liest er das berühmte englische Versepos „Beowulf“.
1909 lernt der Herangewachsene die drei Jahre ältere Edith Mary Bratt kennen, ein Waisenkind wie er. In der Erzählung „Beren und Lúthien“ verewigte er die Frau, die seine Gattin, lebenslange Weggefährtin und unverzichtbare Muse werden sollte. Auf ihrem gemeinsamen Grabstein – sie starb 1971, er zwei Jahre später – steht unter ihrem bürgerlichen Namen: Lúthien.
Unter dem Eindruck des Walisischen – Wales ist nicht fern – und des Altenglischen entwickelt sich eine starke Begeisterung für Sprachen. Der Junge wird zum Logomanen, zu einem Menschen, der manisch von Wörtern, Sprachformen und Zeichensystemen angezogen ist. „Mit 13, 14 begann ich Sprachen zu erfinden“, bekannte der Erfolgsautor später in einem Fernsehinterview, „und ich habe nie wirklich damit aufgehört.“ Die Folge: Kunstsprachen wie Elbisch, Entisch oder Quenya, die auf einem eigenen logisch organisierten Zeichen- und Syntaxsystem beruhen – nur eben einem erfundenen. Tolkien verfaßte ganze Gedichte in diesen Sprachen.
Wenig überraschend also, daß der Logomane ab 1910 in Oxford Englische Sprache und Literatur studierte. Nach dem Krieg wechselte er die Seiten und wurde Philologie-Professor. An der renommierten Universität traf er Clive S. Lewis und überzeugte ihn 1931 vom Christentum. Lewis war neben Sohn Christopher auch der erste Leser der Ringe-Saga. Die beiden frommen Literaten standen jahrzehntelang im regen Austausch über Fragen der Kunst und des Glaubens.
Im Ersten Weltkrieg hatte Tolkien Glück im Unglück: Als Nachrichtenoffizier an der Somme eingesetzt, erkrankt er 1916 und muß nicht zurück an die Front. Als Rekonvaleszent kann er sich wieder seiner heimlichen Leidenschaft, dem Dichten, zuwenden. Mythen und Märchen, urteilte der Oxford-Gelehrte, seien das Erhabenste, das der menschliche Geist erschaffen hat. Diese Faszination hat Folgen: Zu den Kunstsprachen gesellen sich Vorstellungen von ihrer Genese, von den Figuren, die sie gesprochen haben, den Welten, in denen diese Figuren gelebt haben könnten: Mittelerde mit seinen Ents, Elben, Zwergen, den Hobbits und den furchterregenden Orks nimmt allmählich Gestalt an.
In der Mythen-Sammlung „Das Silmarillion“ hielt Tolkien die Grundstoffe für seine Fabelwelt fest. Selbst die Schöpfung der Welt erzählt er noch mal neu, denn mit Mittelerde hat Tolkien seinen eigenen Kosmos erfunden. Nach der Ablehnung des „Silmarillion“ – das Buch wurde erst 1977 von Tolkiens Sohn Christopher in überarbeiteter und vervollständigter Form herausgegeben – widmete er sich in den unruhigen Jahren des Zweiten Weltkriegs ganz dem „Herr der Ringe“-Epos. Die Trilogie wurde, als die drei Bände 1954/55 endlich erschienen, rasch als Gleichnis für die dunkle Nazi-Bedrohung aufgefaßt. Eine Deutung, an die zehn Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe mit der Veröffentlichung einer (nicht lizenzierten) Taschenbuchausgabe in den USA die Hippies nahtlos anknüpfen konnten. Im Vietnamkrieg sah man abermals eine düstere Macht, diesmal die der Imperialisten, am Werk. Die Flowerpower- und New-Age-Bewegung sah ihre Erd- und Naturverbundenheit gespiegelt im idyllischen Auenland, deutete es als verlorenes Paradies, das es zurückzuholen galt. Die Ringe standen für die Macht des Militärs, imperiale Kriegstreiberei, gewissenlose Gewalt.
Von da ist es nur noch ein kurzer Weg zur ersten großen Verfilmung der Fantasy-Mär von 1978. Regisseur Ralph Bakshi hatte sich nämlich bereits mit der Kinoversion des Hippie-Kultcomics „Fritz the Cat“ (1972) über eine völlig verlotterte Sex-, Drogen- und Rock ’n’ Roll-Katze einen Namen gemacht. Doch Bakshis nach damaligen Standards extrem aufwendige Animation verschlang Unsummen. Es blieb bei der Verfilmung des ersten Buches und eines Teils des zweiten; der Film endet recht unvermittelt an der spannendsten Stelle.
1980 gab es zwar noch eine Trickfilmversion von „Die Rückkehr des Königs“, aber erst Peter Jackson konnte mit seiner dreiteiligen Buch-für-Buch-Verfilmung (2001–2003) die Begehrlichkeiten befriedigen, die Bakshi geweckt hatte. Die drei „Herr der Ringe“-Filme hielten sich eng an die Vorlage und schrieben Filmgeschichte. Die Trilogie gewann insgesamt 17 Oscars. Weniger gelungen waren die drei „Hobbit“-Filme (2012–2014), die folgten und die im Vergleich zum „Herrn der Ringe“ eher schmale Vorlage auf noch mal drei Filme aufblähten.
Die enge Verwurzelung von Tolkiens Welt in der britischen Nationalkultur sorgte auch für eine Vereinnahmung der mythischen Romantrilogie durch das rechte Lager. Doch der in sich geschlossene, von der Realität gleichsam hermetisch abgeriegelte Kosmos von Mittelerde läßt – anders als etwa die eindeutig als christliche Parabeln angelegten „Narnia“-Erzählungen seines Freundes C. S. Lewis – eine Eins-zu-eins-Übertragung und daraus folgende ideologische Vereinnahmung gerade nicht zu.
Trotzdem sind auch Tolkiens Werk die üblichen Vorwürfe der Neuzeit-Jakobiner und Kulturrevolutionäre von der Linksaußenfraktion nicht erspart geblieben. Von deren Geblök aber läßt sich die nach wie vor gewaltige weltweite Tolkien-Anhängerschaft nicht beirren. In den sozialen Medien gedeihen die Fangruppen. Der Pastor der Bielefelder Philippusgemeinde, der im Werk des Autors vor allem christliche Bezüge entdeckte, ließ sich davon sogar zu einer eigenen „Herr der Liebe“-Kollektion mit Hochzeitsringen und eigens gedruckten Postkarten inspirieren. Er wollte dem bösen Ring der Ro-mantrilogie einen Ring des Guten entgegensetzen.
Fragt man in diesen Kreisen nach dem Grund für die anhaltende Faszination von „Herr der Ringe“, so ist es zumeist das totale Eingesogenwerden, das eskapistische Verschwinden in der fiktiven Welt, die der Dichter erschaffen hat, was man zu hören bekommt. Was bis heute den Reiz seiner Bücher ausmacht, ist also genau das, was er auch für sich selbst einst bezweckte. Denn der Wunsch, der Moderne zu entrinnen, sich in eine Fantasiewelt zu flüchten, war offenkundig ein wichtiger Ansporn für Tolkiens Kreativität. „Ich bin tatsächlich selber ein Hobbit“, bekannte der Mittelerde-Schöpfer einmal in einem seiner Briefe, „in allem – bis auf die Größe.“
J. R. R. Tolkien: Der Hobbit. Mit Illustra-tionen von Alan Lee. Klett-Cotta, Stuttgart, gebunden, 400 Seiten, 24 Euro
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. 3 Bände, Klett-Cotta, Stuttgart, broschiert, 1.568 Seiten, 35 Euro
Humphrey Carpenter: J. R. R. Tolkien. Eine Biographie. Klett-Cotta, Stuttgart 2022, kartoniert, 448 Seiten, 14 Euro