Anfang Juni 2022 zeichnete die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Bärbel Kofler, ein rosiges Bild. „Niger ist als politisch stabiles und demokratisch regiertes Land Hoffnungsträger in der von vielen Krisen betroffenen Region Sahel“, erklärte die hessische Sozialdemokratin. Es sei wichtig gewesen, daß Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Niger am 23. Mai 2022 die Bedeutung von militärischer Unterstützung zur Stärkung der Sicherheit für das Land und die Region hervorgehoben habe. Zugleich sei deutlich geworden, daß „umfassende menschliche Sicherheit ebenso ein starkes ziviles Engagement“ erfordere. Dabei komme der „Entwicklungspolitik eine entscheidende Rolle“ zu. „Sie verfügt über die geeigneten Wege und Instrumente, langfristig Krisenursachen zu bekämpfen und Entwicklungsperspektiven zu stärken“, erklärte Kofler und betonte: „Einer unserer Schwerpunkte ist die feministische Entwicklungspolitik. Dabei ist uns vor allem die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Frauen und Mädchen wichtig.“
Stopp der Entwicklungshilfe, doch die Übergangshilfe läuft weiter
Doch „feministische Entwicklungspolitik“ hin und „deutsche Hoffnungspolitik“ her – drei Monate vor dem Regierungsumsturz im Niger am 26. Juli 2023 malte eine Analyse des BMZ ein düsteres Bild über die Situation im Land. Nach seinem Amtsantritt im April 2021 habe der neue Präsident Mohamed Bazoum sich zu den Entwicklungszielen der Agenda („Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern“) und dem prowestlichen Kurs der Vorgängerregierung bekannt. Doch noch immer stehe die Bazoum-Regierung vor großen innen- und außenpolitischen Herausforderungen. „Anhänger eines der unterlegenen Kandidaten protestieren regelmäßig gegen den Präsidenten“. Vor allem aber sei die Regierung „nicht fähig, die Grundversorgung und Sicherheit der Bürger zu gewährleisten“. Dadurch fehle der Bevölkerung das Vertrauen in den Staat.
Noch immer präge die „Verfolgung von Einzelinteressen, die sich an ethnischer und regionaler Herkunft ausrichten“, den politischen Alltag, so das BMZ. Auch sei die Korruption „allgegenwärtig“ und trage zur „Schwäche der staatlichen Institutionen“ bei. „Die Justiz ist bisher nicht unabhängig: Gerichtsurteile werden durch politische Amtsträger, verwandtschaftliche Beziehungen und Klientelnetzwerke beeinflußt.“ Hinzu komme, daß neben der staatlichen Gesetzgebung auch eine islamische und eine traditionelle Gesetzgebung existiere. Dies führe dazu, daß „zum Teil diskriminierende Regelungen entgegen staatlicher Gesetze im Alltag“ weiterbestünden. Viele kommunale Funktionsträger seien „nur mangelhaft ausgebildet“. Auch sei die „Verteilung der Finanzmittel vielerorts ungeklärt“.
Kein gutes Ergebnis der deutsch-nigrischen technischen und finanziellen Entwicklungszusammenarbeit, die nach Angaben des Auswärtigen Amtes (AA) seit 1962 knapp eine Milliarde Euro betrug – davon ein Viertel in der Zeit seit 2017. Die jüngsten Regierungsverhandlungen zwischen Deutschland und Niger fanden im Juni 2021 statt. Dabei erfolgten Zusagen in Höhe von rund 120 Millionen Euro für zwei Jahre. Schwerpunkte sind laut AA „Dezentralisierung und gute Regierungsführung“ sowie „Produktive Landwirtschaft und Ernährungssicherung“. Daneben gebe es „Vorhaben zu Gesundheit und Grundbildung“. Hinzu kämen „Komponenten zum Migrationsmanagement und zur Schaffung von ersatzweisen Erwerbsmöglichkeiten außerhalb der Migrationsökonomie“.
Infolge des Militärcoups hat das BMZ die zugesagten Entwicklungshilfezahlungen in Höhe 24 Millionen Euro ausgesetzt. Doch dem Beispiel der EU, die die gesamte „bilaterale Unterstützung finanzieller Art“ ausgesetzt hat, mochte Berlin nicht folgen. Entsprechend betonte die stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amtes Kathrin Deschauer in der Regierungspressekonferenz vom 16. August 2023, daß der Bundesregierung weiterhin „intensiv daran gelegen“ sei, „die Menschen vor Ort zu unterstützen“. Einen Tag zuvor hatte bereits die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Svenja Schulze, in ihrer Eigenschaft als Präsidentin der Generalversammlung der Sahel-Allianz erklärt: „Wir verpflichten uns, in koordinierter Weise einen auf die Menschen ausgerichteten Ansatz zur Unterstützung gefährdeter Bevölkerungsgruppen zu verfolgen, und bekräftigen, wie wichtig es ist, dafür zu sorgen, daß die humanitäre Hilfe unter Wahrung der humanitären Grundsätze ungehindert fortgesetzt wird, unter anderem durch die Erleichterung des Transports von humanitärem Personal und Hilfsgütern nach Niger.“
Diese sogenannte Übergangshilfe sei eine „Art Brücke zwischen langfristiger Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Nothilfe“, erklärte die BMZ-Pressesprecherin Katharina Koufen. „Sie ist ein Instrument der Krisenbewältigung, das man flexibel und kurzfristig in sehr fragilen Kontexten einsetzen kann, beispielsweise nach Naturkatastrophen, nach einem Putsch, wie wir es jetzt sehen, oder auch in Pandemiezeiten. Es geht darum, die Resilienz und Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu stärken und die humanitären Bedarfe zu reduzieren.“ Laut Koufen wird die Übergangshilfe in Niger vom BMZ derzeit mit 338 Millionen Euro unterstützt und von mehreren Organisationen durchgeführt, allen voran von UN-Organisationen wie dem World Food Programme und dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF. Diese UN-Organisationen unterstützt Berlin derzeit mit 309 Millionen Euro für insgesamt fünf Programme, von denen vier regional oder länderübergreifend durchgeführt werden. Dazu komme ein Vorhaben der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mit 9,5 Millionen Euro, bei dem die „Ernährungssicherheit der Bevölkerung in prekären ländlichen Gegenden aufrechterhalten werde, so Koufen. Daneben unterstütze das BMZ mit knapp 20 Millionen Euro sieben Projekte, die Nichtregierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe, Plan International oder die Christoffel-Blindenmission durchführen. Laut Koufen ist ein kleines GIZ-Team von vier Leuten in Niger geblieben.
Bis zum Regierungssturz führte die GIZ im Auftrag des BMZ im Niger Vorhaben durch. So das von Juli 2021 bis Juni 2024 laufende, mit einem Gesamtvolumen von 9,1 Millionen Euro ausgestattete Vorhaben „Unterstützung der Dezentralisierung und guter Regierungsführung“. Im Mai 2023 schildert die GIZ „einige bisherige Wirkungen“ des Vorhabens in Zahlen: „28 Gebietskörperschaften haben umwelt-, klima- und gendersensible Haushalte unter Berücksichtigung der Sicherheitslage aufgestellt; 28 Gebietskörperschaften haben ihre Verwaltungs- und Haushaltsbücher gemäß den Regeln des öffentlichen Rechnungswesens und innerhalb der gesetzlichen Fristen erstellt. Mehr als 400 Akteure (Bürgermeister*innen, Generalsekretär*innen, Finanzbeamt*innen, Stadt- /Regionalsekretär*innen und Vorsitzende der Finanzausschüsse) wurden in verschiedenen Bereichen (Erstellung und Ausführung von Haushaltsplänen und Koordinierung der Gemeindedienste) ausgebildet.“ Das GIZ-Projekt „Beratung zur Umsetzung der nationalen Migrationspolitik – Migration zielgruppenorientiert, menschenrechtsbasiert und partizipativ gestalten“ hat eine Laufzeit vom 1. September 2020 bis 31. August 2023 und ein Gesamtvolumen von drei Millionen Euro.
Insgesamt verfolgt die GIZ in Niger aktuell 29 Projekte mit einem Finanzvolumen von 121 Millionen Euro, in Mali ebenfalls 29 Projekte (274 Millionen Euro) und in Burkina Faso 33 Projekte mit einem Finanzvolumen von 169 Millionen Euro. Insgesamt sind es 334 Projekte für ganz Afrika mit einem Volumen von 3,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 beliefen sich die gesamten deutschen Zahlungen an Länder Afrikas im Rahmen der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit nach Angaben der Online-Plattform Statista auf rund sechs Milliarden Euro.
Zu den Feldern Entwicklungszusammenarbeit und Übergangshilfe gesellt sich noch die humanitäre Hilfe. Während humanitäre Hilfe in unmittelbaren Krisensituationen aktiv ist, setzt Entwicklungshilfe ein, wenn die größte Not vorüber und eine gewisse Stabilität eingekehrt ist. Vor allem die humanitäre Hilfe für Afrika hat nach Angaben des Auswärtigen Amtes eine steigende Tendenz. Betrug sie global 2018 9,4 Milliarden Euro, stieg sie 2021 auf 14,5 Milliarden Euro. Der deutsche Anteil stieg dabei laut AA um über 40 Prozent von rund 391 Millionen Euro (2018) auf 564 Millionen Euro (2021). Im Berichtszeitraum (2018 bis 2021) hat Deutschland seine humanitären Mittel in der Sahelregion (Burkina Faso, Mali und Niger), einschließlich Mauretaniens und den Norden Tschads, von rund 28 Millionen Euro (2018) auf über 70 Millionen Euro (2021) mehr als verdoppelt. Davon entfielen 2021 auf Burkina Faso im Jahr 2021 2,8 Millionen Euro. Mali erhielt 57,7 Millionen Euro und der Niger sechs Millionen Euro.
„Eine Billion Dollar Hilfe für Afrika hat nichts gebracht“
„Der Putsch in Niger ist ein Scheidepunkt für die Zukunft der Sahelregion“, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am 11. August. Von einem Wendepunkt in der Entwicklungszusammenarbeit mit Niger und Afrika im allgemeinen sprach sie nicht. Dagegen fordert Dambisa Moyo, Wirtschaftswissenschaftlerin aus Sambia, den Westen in ihrem Bestseller „Tote Hilfe: Warum die Hilfe nicht funktioniert und wie es einen besseren Weg für Afrika gibt“ auf, seine Auslandshilfe zu überdenken. In den vergangenen 60 Jahren hätten die Industrieländer den Entwicklungsländern Milliarden Dollar an Hilfe zukommen lassen. Doch habe die Hilfe weder zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum noch zu einer Verringerung der Armut geführt. Vor allem kritisiert Moyo, daß diese ausländischen Hilfsinitiativen keine Arbeitsplätze geschaffen hätten. Stattdessen würden sie die Korruption fördern und Afrika in einen Zustand der Abhängigkeit von den Geberländern versetzen. Moyos Fazit: „Um zu helfen, adoptieren Prominente afrikanische Halbwaisen und flanieren durch Flüchtlingslager, laden die Gutmenschen unter den Popstars zu Benefiz-Konzerten, und westliche Staaten haben in den letzten 50 Jahren eine Billion Dollar an afrikanische Regierungen gezahlt. Aber trotz Jahrzehnten von billigen Darlehen, nicht rückzahlbaren Krediten, Schuldenerlassen, bilateraler und multilateraler Hilfe steht Afrika schlimmer da als je zuvor.“