Dieser Schlag traf die russische Luftverteidigung völlig unerwartet: Gleich 16 ukrainischen Drohnen gelang es vergangenes Wochenende, auf einen knapp hundert Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt gelegenen Militärflughafen nahe der russischen Stadt Kursk vorzudringen. Ukrainischen Angaben zufolge zerstörten die Kamikazedrohnen nicht nur vier „Su-30“- und ein „MiG-29“-Kampfflugzeug, sondern ebenso drei Flugabwehrraketensysteme. Dem russischen Radar waren die Drohnen verborgen geblieben, was nur wenig verwundert. Angetrieben von einer einzelnen Luftschraube, wog ihr Korpus bei einer Flügelspannweite von 1,80 Metern nur wenige Kilogramm – und bestand komplett aus Pappkarton und Styropor. Über einhundert dieser preiswerten, eigentlich für den zivilen Gütertransport konzipierten Drohnen bezieht die Ukraine seit März dieses Jahres jeden Monat vom australischen Hersteller „SYPAC“ als flache Bausätze zur Selbstmontage. „Man baut sie zusammen, als wären sie von IKEA, und kann sie dann sofort benutzen“, lobt Vasyl Myroshnychenko, der ukrainische Botschafter in Australien, die innovative australische Erfindung, die der Ukraine als einer von vielen Bausteinen die Rückkehr zur Lufthoheit ermöglichen soll.
Die Unsicherheit des russischen Luftraums hatte zuletzt auch Jewgeni Prigoschin zu spüren bekommen. Zusammen mit Dmitri Utkin, dem Gründer der paramilitärischen „Gruppe Wagner“, war der „Wagner“-Kommandeur am Abend des 23. August in einem Privatflugzeug von Moskau nach Sankt. Petersburg unterwegs, als das Flugzeug in der Oblast Twer ohne abgesetztes Notsignal aus achteinhalb Kilometern Höhe abstürzte und am Boden zerschellte. Sämtliche zehn Passagiere konnten nur noch tot geborgen werden. Ein vier Tage später von russischen Ermittlern veranlaßter DNA-Abgleich bestätigte Prigoschin unter den Verunglückten. Spekuliert wird seitdem über eine vom russischen Geheimdienst plazierte Bombe an Bord des Flugzeugs. Nach monatelangen Machtkämpfen zwischen den Anführern der „Gruppe Wagner“ und dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu besetzten „Wagner“-Soldaten am 24. Juni in einem bewaffneten Aufstand mehrere russische Städte. Prigoschins Vormarsch auf Moskau konnte erst auf Vermittlung des weißrussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko gestoppt werden, der im Ausgleich beim russischen Präsidenten Wladimir Putin Straffreiheit für den „Wagner“-Führer aushandelte.
Der Kreml bestreitet jegliche Tatbeteiligung und verweist auf noch laufende Ermittlungen. „Er hat einige schwerwiegende Fehler im Leben begangen“, kondolierte Putin am Tag nach dem Absturz. „Aber er hat auch die notwendigen Resultate erreicht.“ Noch Ende Juni hatte Putin die „Wagner“-Führung beschuldigt, sie hätten „ihr Land und ihr Volk verraten“. Doch ungeachtet der markigen Worte ihres Präsidenten bleibt das Andenken an Prigoschin und Utkin unter vielen Russen weiterhin positiv erhalten. Auf einem Fußweg nahe des Kreml hatten „Wagner“-Anhänger eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die beiden „Wagner“-Führer errichtet, zu welcher Hundere Moskowiter pilgerten, um Blumen niederzulegen. Fotos von Prigoschin und Utkin sowie Embleme der „Gruppe Wagner“ umrahmen hier ein Bildnis des deutschen Komponisten Richard Wagner. „Soldat zu sein heißt ewig zu leben“, preist ein Spruchbanner über der Stätte.
Nur wenig Interesse an Aufklärung des Absturzes
„Jewgeni Prigoschin hat meinen Respekt allein durch die einfache Tatsache gewonnen, daß er gegen dieses System, gegen Putin, Schoigu, vorgegangen ist und einen aktiven Kampf gegen unsere Regierung begonnen hat“, berichtet ein kondolierender russischer Student im Interview mit der New York Times. „Aber ich bin dagegen, daß seine Söldner in der Ukraine kämpfen.“ An der ukrainischen Front sollte die „Gruppe Wagner“ nach dem gescheiterten Marsch auf Moskau eigentlich dem russischen Militär unterstellt oder aber nach Weißrußland verlegt werden, wo bereits Hunderte weitere Söldner stationiert sind. Unter russischen Kommandeuren wächst die Sorge über einen erneuten Aufstand der Söldner, sollte sich eine Beteiligung des Kreml am Flugzeugabsturz bestätigen.
Am vergangenen Sonntag hatte bereits die paramilitärische „Gruppe Russitsch“, die formell den „Wagner“-Einheiten unterstand, mit der Einstellung ihrer Kampfhandlungen an der Front gedroht, sollte Moskau keine Freilassung ihres Anführers Yan Petrovsky aus der Haft in Finnland erwirken. Ein gefährliches Momentum für den Kreml: Denn die „Gruppe Russitsch“ ist derzeit an der Südfront nahe des ukrainischen Dorfes Robotyne eingesetzt – dem Schwerpunkt der ukrainischen Gegenoffensive. Trotz heftiger russischer Gegenwehr war es der ukrainischen Armee gelungen, die erste Verteidigungslinie zu durchbrechen und mehrere strategisch wichtige Höhenzüge zu erobern. Von hier aus ist in den kommenden Wochen der ukrainische Vorstoß auf Tokmak zu erwarten.
In dieser festgefahrenen Defensivlage kann sich Moskau den Bruch mit seinen paramilitärischen Einheiten nicht erlauben. Eine offizielle Aufklärung der Todesursache der beiden „Wagner“-Chefs dürfte von daher in nächster Zeit kaum zu erwarten sein.