© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/23 / 01. September 2023

Verlorenes Drogenviertel
Rauschmittelepidemie: Das Frankfurter Bahnhofsviertel ist europaweit als Umschlagplatz für Betäubungsmittel aller Art bekannt. Anwohner und Geschäftsleute klagen die Politik an. Sie scheue sich, hier durchzugreifen
Hinrich Rohbohm

Unter unnatürlichen Zuckungen schleppt der Mann sich von der Taunusstraße Richtung Frankfurter Hauptbahnhof. Wankend, seine Umwelt nicht mehr wahrnehmend. Ein Auto rauscht heran, viel zu schnell, vielleicht mit 70 Stundenkilometern. Zwischen Leben und Tod des orientierungslosen Drogensüchtigen liegen höchstens Zentimeter. Ohne ansatzweise zu bremsen rauscht der Pkw an dem Berauschten vorbei. Durch die offene Fensterscheibe flucht er noch.

Alltag im Frankfurter Bahnhofsviertel, nachts um halb zwei mitten in der Innenstadt. Beißender Uringestank vertreibt normale Bürger aus der benachbarten Karlstraße. Auf der Fahrbahn stapelt sich der Müll. Im Dunkel der Hausfassaden kauern Gestalten, hocken zwischen parkenden Autos oder liegen einfach nur regungslos im Rinnstein. Etwas  entfernt zersplittert Glas. Schreie. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen, werden lauter, je näher ich mich auf die Niddastraße und die Moselstraße zubewege.

Ein Schatten hebt sich im Zwielicht des schummrigen Neonlichts zwischen zwei parkenden Autos hervor. Nur silhouettenartig zu erkennen. Die Gestalt läuft gebückt, kommt näher. Ein dunkles Etwas, das Gesicht unter einem Hoodie verborgen, stets auf den Boden blickend. So als würde sie etwas suchen. Zwanzig Meter der nächste. Er liegt auf der Straße, zwischen dem Müll. Niemand interessiert sich für ihn. Die Polizei ist am Hauptbahnhof bei der benachbarten Taunusstraße präsent. Doch hier ist niemand.

Erst das Sonnenlicht in den Morgenstunden macht die Szenerie erträglicher. Die Ladenbesitzer verpassen den Dahinvegetierenden etwas Schwung. Menschen jenseits von Drogenhandel und Prostitution beginnen, die Straßen zu bevölkern. Der Müll ist verschwunden. Als hätte sich das hier vor wenigen Stunden nicht abgespielt. Die Stadtreinigung war da.

Frühstück beim Schlachter. „Wenn wir öffnen, ist das Schlimmste schon vorbei“, sagt der Mann an der Theke. Und doch: „Gerade am frühen Morgen bekommen wir noch einiges mit.“ Der Schlachter erzählt von den Süchtigen, die sich „wie Zombies“ durch die Straßen bewegen. Von Wirkstoffen wie Fentanyl, die unter anderem dazu führen, daß die Abhängigen ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen. Er erzählt von den Süchtigen, die mit dieser gebückten Haltung den Boden absuchen. „Die suchen nach Crack-Steinen“, erklärt er.

Johannes Livelli kennt das. Der 52jährige ist Leiter des Hauses der Hoffnung, mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel. Eine Zufluchtsstätte für Drogenabhängige und andere. Bereits Anfang der neunziger Jahre hatte er in einer Drogenhilfe gearbeitet, seit 1992 lebt er im Bahnhofsviertel. Trotz aller Negativ-Schlagzeilen sieht er Positives. Neue Suchträume seien geschaffen worden. „Die Taunusanlage ist heute wieder eine schöne Parkanlage, wo man sich gerne aufhält.“ In den Neunzigern sei das noch „die größte offene Drogenszene Europas“ gewesen, wo sich „Männer und Frauen tausendfach vor uns ausgezogen haben, um ihre letzte Ader zu finden, in die sie sich Heroin spritzen konnten“.

Menschenhandelszentrum Nummer eins in Europa

Er erzählt von Bankern in Nadelstreifen, die nachmittags aus ihren Bürotürmen herunterkamen, „um sich Kokain zu ziehen“. Damals habe er mit Teams aus der Dritten Welt zusammengearbeitet. Mit Leuten, die elend kennen, in Slums aufgewachsen waren. „Die haben mir gesagt, das hier ist der traurigste Ort, den sie jemals gesehen haben.“

Angefangen hatte alles unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Nachdem die Stadt praktisch „plattgemacht“ worden war, sei aus „dem damaligen Chaos heraus ein Drogen- und Prostitutionszentrum entstanden“, das sich im Laufe der Jahrzehnte „zunehmend verschlimmert“ habe. Erst in der Regierungszeit der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) zwischen 1995 und 2002 sei es zu spürbaren positiven Veränderungen gekommen. Doch spätestens seit der Migrationskrise 2015 habe sich die Situation wieder verschärft. Immer mehr Leute säßen auf der Straße.

Heute hätten Algerier die Drogenszene unter ihrem Kommando. „Die werden von ihren Familien nicht hierhergeschickt, um Drogen zu verkaufen, sondern in erster Linie, um Geld zu beschaffen“, erklärt der Leiter des Zufluchtshauses. Weil sie in Deutschland jedoch keine geordnete Möglichkeit haben zu arbeiten, würden sie ins Drogengeschäft einsteigen. Inzwischen sei Frankfurt wieder zum zentralen Anlaufpunkt für Drogensüchtige geworden, sei zudem das „Menschenhandelszentrum Nummer eins in Europa“. Seinen Optimismus hat Johannes Livelli dennoch nicht verloren. Er sieht nach wie vor Chancen, die Lage zum Besseren zu wenden. Neben den Drogensüchtigen müsse man auch den einfachen Kriminellen eine Perspektive aufzeigen, aus dem Teufelskreis auszubrechen. „Viele Kleinkriminelle sind da irgendwann reingerutscht, etwa durch Schulden. Und es ist für sie dann nicht einfach, sich aus den Netzwerken der organisierten Kriminalität zu befreien.“

Die Polizei mache im Bahnhofsviertel einen guten Job, sei jedoch „sehr frustriert, weil die Täter nach ein oder zwei Tagen von der Justiz wieder laufengelassen werden.“ Daß es der Polizei hier vor allem auch an der notwendigen politischen Unterstützung fehle, kann Livelli nur „ganz klar bejahen“. Für den mangelnden Willen, das Elend im Bahnhofsviertel zu bekämpfen, liefert er einen Erklärungsansatz: „Wenn Politiker die Situation eines Suchtkranken so einschätzen, daß dies Teil seines Lebensstils ist, dann will man dies alles politisch nur begleiten und unterstützen und ihn nicht von der Sucht heilen.“ Auf die Frage, um welche Teile der Politik es sich genau handele, lacht Livelli auf. „Ich werde Ihnen da jetzt nicht Roß und Reiter nennen, aber es gibt Strömungen, die so etwas eher befürworten.“ Er selbst sehe das anders. „Ich glaube, daß antiautoritäre Strukturen nicht weiterhelfen und Sucht immer einer Therapie und einer Heilung bedarf.“

Einer, der sich mit diesem Lebensstil angefreundet hat, ist Nazim Alemdar. Der 65 Jahre alte Betreiber des Kultkiosks „Yok Yok“ in der Münchener Straße ist in der Bahnhofsszenerie der Mainmetropole eine feste Institution. Nicht zuletzt aufgrund seiner unzähligen verschiedenen Biersorten, die er für seine Kunden parat hält. „Das Bahnhofsviertel ist ein absolut sicherer Ort, niemand wird dir etwas tun“, verspricht er. Er sieht die Verantwortung oft bei denen, die sich beklagen. „Wenn sich ein alter Mann von jungen Frauen auf der Straße ansprechen läßt und dann mitgeht und sich hinterher beschwert, daß seine Brieftasche weg ist, dann ist er doch selbst schuld, oder?“, meint Alemdar und wartet auf eine Bestätigung.

Er schwärmt von der tollen Architektur des Viertels, den einstigen noch zur Kaiserzeit angelegten Prachtstraßen, von den zahlreichen Türmen, die es hier aus dieser Zeit noch gebe. Und das Drogen-und Prostitutionsmilieu? Das gehöre nun mal dazu, sei aber längst nicht so schlimm, wie es stets herbeigeredet werde.

Die Aggressivität steigt, aber die politische Verantwortung fehlt

Eine Auffassung, die Rusbeh Toussi so nicht teilen kann. Der Geschäftsführer des Velvet, eines Frankfurter Szene-Clubs, steht vor der Tür des Etablissements und zeigt auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Da drüben wurde letzten Monat erst wieder einer abgestochen“, erzählt er. Dann schreitet er seine Hausfassade ab, zeigt auf eine übel riechende Stelle. „Hier liegen jeden Tag Kotze, Urin und Kot.“ Mit einem Anflug von Galgenhumor sagt er: „Okay, der Kot fehlt heute.“

Seit fast zehn Jahren betreibt er seinen Club an einem der brisantesten Hotspots der Frankfurter Drogenszene, ist mitsamt Büro und Privatwohnung hierher gezogen. „Aggressivität und Gewaltpotential haben deutlich zugenommen“, sagt er. Die Art der Drogen habe sich geändert. „Inzwischen haben wir hier Sachen, die zu einer Art Zappelphilipp-Syndrom führt. Wir sehen auch Leute, die aus dem Ausland herkommen, weil sie der Ruf dieser Ecke anzieht. Sie wissen, hier kann man Drogen aller Art bekommen und hat keine Sanktionen zu befürchten. Es ist ein Kollektiv-Versagen der Politik.“

Erst vor wenigen Tagen hatte Toussi zwei Einbrecher in seinem Keller gestellt. Das sei so unangenehm für die Eigentümer, daß viele bereits weggezogen seien. An den Wochenenden würden die Straßen nachts einer Mondlandschaft aus Dreck, Unrat und Müll gleichen. Die Folge sei Leerstand. „In diesem Haus sind wir die letzten Mieter“, schildert Toussi. „Die Sicherheitsdezernentin, wo ist die?“, fragt er aufgebracht. „Wir haben hier täglich Messerstechereien.“

Die Abhängigen bräuchten Hilfe, aber oft sei  keine da. Die Verantwortlichen der Stadt verschlössen oft die Augen vor den Zuständen. „Wenn man unsere Politiker fragen würde, ob sie das so wollen, dann würden sie natürlich sagen, nein, das wollen wir nicht. Die Politiker wollen auch nicht, daß die AfD 30 Prozent hat, aber sie haben das befördert. Und man ändert das nicht, indem man jeden als rechtsradikal beschimpft, der die Probleme anspricht und die Ängste der Bürger benennt.“ Wie groß die Angst ist, erlebt auch Toussi im Alltag. „Ich brauchte nur jemanden, der mir kurz die Tür aufhält. Ich habe auf der Straße gefragt. Die Leute sind schweigend weitergelaufen.“ Aus Angst.

Er erzählt von ganz normal gekleideten Menschen, die nachts mit Taschenlampen unterwegs sind, um nach Crack-Steinen zu suchen. „Das geht über mehrere Stunden hinweg.“ Toussi berichtet auch von zahlreichen abgebrochenen Heckscheibenwischern bei parkenden Autos. „Die Stange davon nutzen die Süchtigen zum Säubern ihrer Crack-Pfeifen.“ Daß Crack geraucht werde, sei im Bahnhofsviertel Standard. Und wer es raucht, sei abhängig. Sofort. Hinzu kommen natürlich Kokain und Heroin.

„Wieso ist eine Methadon-Abgabestelle ausgerechnet an einem Ort, wo man erst an zehn Dealern vorbeilaufen muß?“, fragt sich Toussi. „Jemandem Crack geben ist, wie jemandem eine Kugel durch den Kopf zu schießen.“ Die Dealer seien der Polizei bekannt, zu 99 Prozent seien es Ausländer ohne Paß. „Warum nimmt man die nicht fest?“, fragt der Clubbetreiber, der in seinem Laden Partys organisiert. Toussis Verdacht: Das Ganze sei politisch gewollt. Hier. Nicht in der Taunusanlage, wo inzwischen teure Wohnungen für besserverdienende Grüne errichtet worden seien.

Die Polizei halte sich zurück, habe resigniert. Toussi blickt erneut auf die andere Straßenseite. Gerade ist ein Rettungswagen mit Blaulicht angekommen. Wieder mal. „Das hier ist ein Lost Place“, sagt er nur. In Erwartung der näher rückenden nächsten Szene-Nacht.

JF-TV-Reportage: INSIDE FRANKFURT BAHNHOFSVIERTEL – Grüne Politik im Endstadium