© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/23 / 01. September 2023

Ländersache: Bayern
Wirbel vor dem Wahlkampf
Christian Schreiber

Der Wahlkampf zur Landtagswahl am 8. Oktober hat noch nicht einmal richtig Fahrt aufgenommen, da ist der Freistaat plötzlich bundesweit das Aufregerthema Nummer eins. Der bayerische Wirtschaftsminister und Vorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, sieht sich massiven Vorwürfen ausgesetzt, er habe vor 35 Jahren als Gymnasiast ein äußerst geschmackloses und zynisch-gewaltverharmlosendes Flugblatt verbreitet. 

Am vergangenen Wochenende bekannte sich der knapp ein Jahr ältere Bruder des Politikers zur Urheberschaft des Pamphlets. Aiwanger selbst räumte ein, er habe möglicherweise ein oder zwei Exemplare in seiner Schultasche gehabt. Die damalige Konsequenz für den 17jährigen: Der heutige stellvertretende Ministerpräsident mußte ein Strafreferat halten. Das Ungemach, das ihm nun droht, ist ungleich größer. Nachdem die Süddeutsche Zeitung die Angelegenheit öffentlich machte (siehe Seite 17), überschlugen sich die Rücktrittsforderungen. 

Ministerpräsident Markus Söder (CSU) tauchte erst einmal ab und berief den Koalitionsausschuß ein. Anschließend erhöhte er den Druck auf Aiwanger. Dieser solle einen Katalog mit 25 Fragen schriftlich beantworten, sagte Söder am Dienstag. Die spannende Frage, warum ein 35 Jahre altes Flugblatt zu Beginn des Landtagswahlkampfes an die Öffentlichkeit gelangte, ist bisher noch nicht vollumfänglich geklärt. Die Süddeutsche beruft sich bei ihren Recherchen auf einen damaligen Lehrer. 

Aiwanger selbst, so berichteten andere Medien, habe aber bereits 2008 eine Parteifreundin beauftragt, mit dem Lehrer zu sprechen, um herauszufinden, ob dieser mit dem Uralt-Vorfall an die Öffentlichkeit gehen werde. Sollte dies den Tatsachen entsprechen, dann hätte der Minister fast eineinhalb Jahrzehnte auf einer tickenden Zeitbombe gesessen. Es liegt auf der Hand, daß die Affäre in direktem Zusammenhang mit einer Rede steht, die der Freie-Wähler-Chef Anfang August bei einer Demonstration gegen das Heizungsgesetz in Erding gehalten hat. Politische Konkurrenten hatten ihm anschließend AfD-Vokabular und Rechtspopulismus vorgeworfen. Der 52jährige wiederum betont, nur er könne die Zuwächse der AfD in Grenzen halten. In aktuellen Umfragen liegen die FW zwischen elf und 14 Prozent. CSU-Chef Söder hat bis zuletzt angekündigt, die Koalition fortsetzen zu wollen – auch nach der Wahl. 

Möglicherweise kommt den Christsozialen die Affäre aber gar nicht so unrecht. Sollte es der CSU gelingen, Aiwanger ein paar Prozentpunkte abzujagen, wäre sogar eine absolute Mehrheit der Mandate nicht ausgeschlossen. Theoretisch denkbar ist auch, daß die FDP vom Wirbel um die Freien Wähler profitiert und knapp den Einzug ins Maximilianeum schafft. Mit den deutlich kleineren und konturlosen Liberalen könnte Söder im Notfall sogar leichter regieren. Auszuschließen ist aber auch folgendes Szenario nicht: Aiwanger, der großen Rückhalt innerhalb seiner Partei hat, könnte als Opfer einer Kampagne von links sogar noch zulegen und dies auf Kosten der AfD. Dann hätte Söder spätestens nach der Wahl ein Problem. Es wird spannend in Bayern – und der Wahlkampf hat gerade erst begonnen.