© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/23 / 01. September 2023

„Europa unter Druck setzen“
Interview: 150 Jahre dominierte der Westen Afrika – nun greift China nach dem Schwarzen Kontinent. Doch der ehemalige Botschafter Guido Herz warnt: Nicht Peking ist der Grund zur Sorge ...
Moritz Schwarz

Herr Dr. Herz, hat Deutschland im neuen „Wettlauf um Afrika“ den Anschluß verloren? 

Guido Herz: Nein, denn im Grunde haben wir dort nie wirklich Anschluß gehabt. 

Was heißt das? 

Herz: Schon in der Epoche des Imperialismus trat Deutschland erst ab 1884 und damit verspätet in Afrika auf den Plan. Infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 blieben unsere wenigen afrikanischen Kolonien – Togo, Kamerun, Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika – ein Intermezzo. 

Aber die berühmte „Berliner Konferenz“ ab 1884 ...

Herz: ... stellte zwar die Weichen für die weitere Kolonisierung des Kontinents durch die europäischen Mächte, begründete aber keine deutschen Kolonien. Erst als ab 1951 mit der Unabhängigkeit Libyens die Dekolonisierung des Kontinents in Gang kam, engagierten wir uns wieder politisch in Afrika. Was allerdings im Grunde nur ein Nebeneffekt der Hallstein-Doktrin war. 

Also der offiziell bis 1969 gültigen Politik der Bundesrepublik, diplomatische Beziehungen zu Staaten abzubrechen, wenn sie die DDR völkerrechtlich anerkannten.

Herz: Beziehungsweise Staaten nur dann diplomatisch und finanziell zu unterstützen, wenn sie der DDR die Anerkennung verweigerten. Daneben trat mit der Gründung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1961 als zweite Säule unseres Afrika-Engagements die Entwicklungshilfe – die sich aber im Lauf der Zeit verselbständigte.

Was bedeutet?

Herz: Daß ihr Charakter als ein Mittel unserer Außenpolitik gegenüber dem humanitären Aspekt immer mehr in den Hintergrund trat. 

Sie halten die Politik der Entwicklungshilfe jedoch auch aus humanitärer Sicht für gescheitert. Warum? 

Herz: Weil sie zwar vielen Menschen geholfen, ihr eigentliches Ziel aber verfehlt hat, die Länder zu funktionierenden Rechtsstaaten mit breiter Teilhabe der Bevölkerung an den politischen Entscheidungen über ihr Schicksal zu entwickeln. Jenseits dieser beiden Säulen, also geopolitisch, hat Deutschland in Afrika nie eine entscheidende Rolle gespielt. 

Immerhin führen wir aber gemeinsam mit Frankreich die Liste der wichtigsten EU-Handelspartner Afrikas an. Und die EU insgesamt wiederum ist Afrikas größter Handelspartner – vor China, dem innerafrikanischen Handel und den USA.   

Herz: Unser Afrika-Handel macht nur um die zwei Prozent der deutschen Exporte aus. Davon geht das meiste in den Maghreb, Südafrika und Nigeria, das übrige Subsahara-Afrika spielt so gut wie keine Rolle.

Aber der neue „Wettlauf um Afrika“ – eigentlich bezeichnet der 140 Jahre alte Begriff die Kolonisierung Afrikas ab etwa 1880 – ist doch nun in aller Munde. 

Herz: Das ist aus meiner Sicht ein Modethema.   

Immerhin waren noch 1996 die führenden Handelspartner Afrikas vor allem die früheren europäischen Kolonialmächte, Frankreich, England, Portugal etc. Doch bereits 2016 dominierte China den Kontinent, und die einzelnen westlichen Länder – wenn man sie also nicht als EU zusammenzählt – waren von Peking sowie innerafrikanischen Handelspartnern in den meisten Staaten von der Führungsposition verdrängt.  

Herz: Der Kontinent umfaßt 55 Staaten und hat gewaltige räumliche Ausmaße, er ist daher nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Besonders Subsahara-Afrika hat aber nach wie vor keine leistungsfähigen staatlichen Strukturen mit stabilen und verläßlichen Institutionen, weshalb ich seine Attraktivität als Standort bezweifele. Übrigens sind die Chinesen bereits seit Jahrzehnten dort aktiv. Ich habe das schon vor vierzig Jahren, auf meinem ersten Auslandsposten in Kamerun erlebt, wo sie in der Hauptstadt Jaunde ein riesiges Kongreßzentrum bauten und im benachbarten Äquatorialguinea Straßen quer durch den Urwald zogen. Dieses Muster Chinas, dort repräsentative öffentliche Bauten zu errichten, konnte man in vielen afrikanischen Staaten schon in den achtziger Jahren beobachten. Doch haben die Afrikaner oft weniger davon, als man meinen mag, denn die Chinesen bringen ihre eigenen Arbeiter mit – sowie, um diese zu versorgen, eigene Dienstleister. Das bedeutet, daß weder in nennenswerter Zahl Jobs für die Einheimischen entstehen, noch die lokalen Geschäftsleute viel davon haben. 

Inzwischen ist China aber zu einem der wichtigsten Investoren sowie zum Hauptkreditgeber des Kontinents aufgestiegen. In den vergangenen zwanzig Jahren ist Pekings Handel mit Afrika um über 2.000 Prozent gewachsen. Zwölf Prozent der dortigen Industrieproduktion sind in chinesischer Hand, und die Zahl in Afrika aktiver chinesischer Unternehmen ist seit 2006 von 800 auf über 10.000 heute geschnellt. 

Herz: Das klingt beeindruckend – besagt aber wenig. Außer in Nigeria und Südafrika ist mir keine nennenswerte Industrieproduktion in Subsahara-Afrika bekannt. Und umfangreiche Investitionen und Kredite sind nur dann für Konkurrenten bedrohlich, wenn sie auch zu weltmarktgängigen Produkten und zu Gewinnen führen – ist das nicht der Fall, bedrohen sie auf Dauer eher ihre Geber. 

Wollen Sie damit sagen, daß wir einfach gelassen zuschauen sollten, wie China sich in Afrika verausgabt, statt anderswo seine Kräfte einzusetzen? 

Herz: Genau so sehe ich das – und deshalb bin ich diesbezüglich ganz entspannt. 

Manche sprechen allerdings von einer chinesischen „Schuldenfalle“, in die die Afrikaner tappen. Einmal darin gefangen, nutzt China seinen Einfluß als Gläubiger politisch aus, etwa um die Schuldner zu veranlassen, bei Uno-Abstimmungen im Sinne Pekings zu votieren. 

Herz: So einfach ist es wohl nicht. In vielen afrikanischen Staaten gibt es wegen der Kolonialzeit seit jeher Ressentiments gegen uns, den „Westen“. So sympathisieren die Afrikaner etwa im Ukrainekrieg mehrheitlich mit Rußland. Für eine Positionierung gegen den Westen in der Uno ist eine Schuldenabhängigkeit also nicht unbedingt nötig. Sicher werden die Chinesen sie aber instrumentalisieren, wo sie besteht. Nur können wir ihnen das schwerlich vorwerfen, da der Westen es kaum anders macht, wie etwa das erwähnte Beispiel der Hallstein-Doktrin zeigt. Auch und gerade der Westen hat die Verschuldung der afrikanischen Länder lange gefördert. Ergebnis? Irgendwann wurde klar, daß diese Schulden nicht zurückgezahlt werden können, und wir mußten sie erlassen. Auch China wird diese Erfahrung früher oder später machen.

Was ist mit den reichhaltigen Rohstoffen Afrikas, die Peking so möglicherweise an sich bringt?

Herz: Diese abzubauen kann natürlich lukrativ sein, aber es ist nicht zu befürchten, daß das, was Afrika hier anzubieten hat, nicht auch auf dem Weltmarkt landet oder aus anderen Quellen dort erhältlich ist. Denn nicht alles, aber vieles wird auch auf anderen Kontinenten gefördert. Nein, für uns weit besorgniserregender als das chinesische Engagement ist Afrikas gewaltiges Bevölkerungswachstum. Das uns, Stichwort Migration, bereits heute vor große Herausforderungen stellt, erst recht aber, wenn seine Bevölkerung in nur gut 25 Jahren von jetzt 1,4 Milliarden Menschen auf dann 2,5 Milliarden angewachsen sein wird!

Genau deshalb, so die Warner, sei die Sache ja so ernst:  denn damit entstehe um 2050 ein gewaltiger Markt – den Peking sich heute schon sichert! 

Herz: Ich sehe leider nicht, daß die instabilen Strukturen Subsahara-Afrikas bis dahin überwunden sein werden und das Bevölkerungswachstum mit einem entsprechenden Wachstum der Kaufkraft einhergehen wird. Die Bevölkerungsexplosion wird eher zu noch mehr Armut, Krisen und Bürgerkriegen führen. Zudem werden sich die Veränderungen des Weltklimas leider negativ auf den afrikanischen Kontinent auswirken. Im übrigen: Wenn aus Afrika immer mal wieder eindrucksvolle Wachstumszahlen gemeldet werden, dann ist dafür in der Regel der sogenannte „Basiseffekt“ verantwortlich. Der besagt, daß von nahezu Null aus jedes Plus natürlich gewaltig erscheint. Konkret, bei einem sehr niedrigen Bruttosozialprodukt erzeugt es eine enorme Wachstumsziffer, wenn ein Konzern zum Beispiel hundert Millionen Euro in ein Projekt investiert. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß man es mit einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum zu tun hat, das der breiten Bevölkerung zugute kommt.

Die These lautet, daß Afrika 2050 mit seinem gewaltigen Reservoir an jungen Arbeitskräften aufgrund der Überalterung des Westens und künftig auch Chinas zur neuen „Werkbank der Welt“ wird – und damit dann tatsächlich nachhaltig boomt. 

Herz: Dafür müßte in den jeweiligen Ländern ein Mindestmaß an politischer Stabilität, rechtsstaatlichen Strukturen sowie Bildungs- und Ausbildungskapazitäten vorhanden sein. Ich sehe nicht, wie diese Voraussetzungen in den nächsten 25 Jahren geschaffen werden können.

Sorgen machen dem Westen nicht nur die Chinesen, sondern auch das Vordringen der Russen in Westafrika in Gestalt der Söldnerarmee Wagner.

Herz: Auch das halte ich für dramatisiert. Tatsächlich sind die Russen schon seit dem Kalten Krieg in Afrika sehr präsent, wo sie etliche Regimes gestützt und Länder wie Angola, Mosambik oder Äthiopien massiv militärisch aufgerüstet haben. Mosambik führt seit seiner Unabhängigkeit 1975 bis heute eine russische Kalaschnikow im Wappen seiner Staatsflagge!

Aktuell geht es aber um die Länder der Sahelzone, die bisher mit Frankreich und dem Westen kooperierten und in denen die französische und westliche Militärpräsenz in relativ kurzer Zeit mit Unterstützung der Wagner-Kämpfer verdrängt wurde – jüngstes Beispiel Niger. Ist das kein Grund, sich Sorgen zu machen? 

Herz: Auf jeden Fall, aber weniger, weil dort nun russische Söldner statt französischer Legionäre stehen, sondern wegen des demographischen Drucks, der sich dort aufbaut. 

Klar – doch hat der nichts mit den Russen zu tun. 

Herz: An sich nicht, aber der Einsatz der Franzosen – sowie der sie in Mali und Niger im Rahmen von Uno-Missionen unterstützenden Bundeswehr – sollte die Staaten im Sahel stabilisieren, auch damit die Menschen nicht nach Europa migrieren. Allerdings war das von Beginn an ziemlich aussichtslos, denn diese Länder sind viel zu groß und bevölkerungsreich, um sie mit einigen tausend Soldaten gegen Islamisten und Warlords sichern zu können. Und das wird auch der Wagner-Truppe nicht gelingen – was diese allerdings, fürchte ich, auch gar nicht will: Vermutlich zielt Rußland darauf, die Region zu destabilisieren, um durch die dann verstärkt einsetzende Migration Druck auf Europa auszuüben.

Geht es nicht einfach um Einfluß, Geschäfte und die Demütigung des Westens durch seinen Abzug, statt um einen so komplexen strategischen Angriff auf Europa? 

Herz: Ich halte diesen Angriff sogar für sehr wahrscheinlich. Sie werden sich erinnern, daß bereits 2021 von Belarus aus gezielt Migranten in Marsch gesetzt wurden, um die EU unter Druck zu setzen. Und vergessen Sie nicht, daß sich die Russen nicht nur aus ihrer Sicht in einem existentiellen Kampf gegen den Westen befinden, sondern daß auch wir, wie unsere Außenministerin sagte, „einen Krieg gegen Rußland kämpfen“. 

Was kann Europa gegen die „Migrationswaffe“, so die US-Politologin Kelly M. Greenhill, tun?  

Herz: Vor Ort, fürchte ich, gar nichts. Die Dimension des Problems ist zu groß, als daß Europa es in Afrika lösen könnte. Zwar ist der von der deutschen Politik vielbeschworene Ansatz „Bekämpfung der Fluchtursachen“ theoretisch richtig, praktisch aber war er schon immer eine Chimäre. Wie der Umstand zeigt, daß sowohl über sechzig Jahre Entwicklungshilfe gescheitert sind, als auch über zwanzig Jahre „Krieg gegen den Terror“ nirgendwo zu stabilen Staaten geführt hat. Daher fürchte ich, daß das einzige, was Europa bleibt, eine effektive Grenzsicherung ist.  

Wie aber sollte unsere künftige Afrikapolitik aussehen?

Herz: Vor allem: Erstens die Entwicklungshilfe radikal überdenken. Zweitens mit jedem afrikanischen Land im Dialog bleiben, weil jedes eine Stimme in der Uno hat. Darüber hinaus aber sollten wir unsere Energie vor allem auf Weltgegenden lenken, die für uns entscheidend sind, und uns nicht in Afrika verkämpfen, wo wir als Deutschland weder großen Einfluß haben, noch gehen dort die für uns wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen vor sich, sieht man vom demographischen Druck ab. 

Was ist mit der feministischen Außenpolitik? Außenministerin Baerbock hat erklärt, daß es für die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel wichtig sei, Toilettenprojekte in Afrika dann zu fördern, wenn sie in der Mitte eines Dorfes gebaut würden, trotz Geruchsbelästigung, damit Frauen und Mädchen auch nachts sicher zur Toilette gehen könnten. 

Herz: Ich glaube, wo ein afrikanisches Dorf seine Toiletten baut, sollte nicht in Berlin entschieden werden. Wir konzentrieren uns besser auf andere Dinge. Entscheidend ist, daß es gelingt, in Afrika Staaten und Gesellschaften mit funktionierenden Institutionen zu schaffen – sprich partizipative Rechtsstaaten, die aber im Detail nicht zwangsläufig aussehen müssen wie bei uns. Diese Strukturen können jedoch nur die Afrikaner selbst schaffen – unsere Aufgabe ist es, sie dabei zu begleiten und zu unterstützen, sofern gewünscht. Keine Unterstützung ist, ihnen weiter mit der herkömmlichen Entwicklungshilfe einen bequemen Weg anzubieten, Probleme zu verkleistern und kurzfristig scheinbar zu lösen. Kontraproduktiv sind auch unsere Moralpredigten, wie sie ihre internen politischen und gesellschaftlichen Fragen zu regeln haben. Genau das ist nämlich, was die Afrikaner als die altbekannte weiße Bevormundung durch das koloniale Europa empfinden.






Dr. Guido Herz, war Vize-Botschafter in Tunesien mit Schwerpunkt Entwicklungspolitik, ab 2008 Botschafter im ostafrikanischen Tansania sowie von 2011 bis 2016 in Kasachstan, zudem Generalkonsul in Königsberg und Inspekteur des Auswärtigen Amtes. Zuvor beriet er die Unionsfraktion im Bundestag und war von 1998 bis 2002 Leiter des Büros der CDU für Außenbeziehungen sowie ihr Internationaler Sekretär. Geboren 1950 in Halle, wuchs der Mediziner und Diplomat in Speyer auf.