Scheitern. Die Selbsttötung gilt gemeinhin als private Entscheidung. Nur persönliche Motive scheinen ausschlaggebend für den Suizid. Entschieden anders sah das der französische Soziologe Émile Durkheim (1858–1917) in seiner 1897 veröffentlichten Studie „Le suicide“, eine der ersten Monographien der empirischen Sozialforschung. Sie führt den Nachweis, daß der Selbstmord nicht nur individueller, sondern auch sozialer Natur ist. Selbstmordraten, in amtlichen Statistiken erfaßt, seien demnach Indikatoren für Kollektivzustände. In seinem gedankenreichen „Versuch über das Scheitern“ knüpft der Publizist Michael Böhm an dieses klassische Werk insoweit an, als er wie Durkheim in der Fortschrittsideologie der Moderne eine Erklärung für das Phänomen sucht. Könnten doch kapitalistische Industriegesellschaften ihr Versprechen auf Glück durch fortschreitendes Wachstum immer weniger einlösen. Das treibe die Zahl der darin Scheiternden in die Höhe, wie sich an der Suizidrate aller westlichen Länder ablesen lasse. Allein in Deutschland hat sich die Zahl der Selbstmörder seit 2000 jährlich bei zwölf pro 100.000 Einwohner verstetigt – das sind seitdem 100.000 Opfer eines zu einseitig auf materiellen Erfolg und individuelle Selbstoptimierung ausgerichteten Menschenbildes. (wm)
Michael Böhm: Versuch über das Scheitern. Betrachtungen eines unangenehmen Phänomens. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Lüdinghausen 2023, gebunden, 192 Seiten, 22 Euro
Vertreibungsverbrechen. Eine der ersten Maßnahmen der Regierung unter Willy Brandt war 1969 die Auflösung des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (BMVt). Um den Anschein zu wahren, die Anliegen der Ostvertriebenen weiter zu verfolgen, gab Innenminister Hans-Dietrich Genscher dem Bundesarchiv sogleich den Auftrag, anhand von etwa 30.000 Einzelberichten die bereits vielbändig vorliegende, in den fünfziger Jahren vom BMVt angestoßene „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ zu ergänzen. Der 1974 fertiggestellte Bericht über tausende, vorwiegend von Sowjets verübte Greueltaten jenseits von Oder und Neiße an Zivilisten wurde jedoch unter Verschluß gehalten, um das auf Entspannung gepolte Klima der neuen Ostpolitik nicht zu gefährden. Erst nach dem Regierungswechsel 1982 gab Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) die Publikation der Archivalien und ausgewählter Erlebnisberichte frei. Diese zuletzt nur antiquarisch erhältliche Dokumentation grauenhafter Verbrechen zwischen Metgethen in Ostpreußen und dem untersteirischen Tüffer ist nun als Neuauflage erhältlich. (bä)
Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.): Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945–1948. Bublies Verlag, Beltheim-Schnellbach 2022, broschiert, 392 Seiten, 29,80 Euro