© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Verfolgung nach Ansichtssache
Der Journalist Ronen Steinke kritisiert die politische Schlagseite des Verfassungsschutzes
Ulrich Vosgerau

In seinem Buch fordert Ronen Steinke, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, nicht weniger als die Abschaffung des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern. Die Bespitzelung und öffentliche Verächtlichmachung vollkommen legaler Aktivitäten („also zum Beispiel gegen die Linkspartei-Jugendorganisation ‘Solid’ oder gegen Klimaaktivisten wie ‘Ende Gelände’ oder auch gegen die legale Partei AfD“) müßten aufhören. Ermittlungen gegen Gewalttäter und Terroristen seien hingegen völlig legitim, dafür sind aber die Strafverfolgungsbehörden zuständig. Eine bemerkenswerte These! Freilich weist deren Herleitung auch Schwächen auf.

Die Grundidee der wehrhaften Demokratie findet der Verfasser unter Rekurs auf das Scheitern der Weimarer Republik „einleuchtend“. Nun besteht diese Idee aber gerade darin, daß der Inlandsgeheimdienst – als „Politik-Beobachtungsgeheimdienst“ – nicht nur illegale und zumal gewalttätige Staatsstreichversuche abwehrt (diese sind freilich auf der ganzen Welt verboten), sondern auch und gerade die allmähliche Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch „Extremisten“ mit legalen und friedlichen Mitteln, was einen deutschen Sonderweg gegenüber allen anderen westlichen Demokratien darstellt. „Ein Inlandsgeheimdienst wie der deutsche, der die eigene Bevölkerung nach politischen Kriterien scannt und auch legal agierende Parteien und Protestgruppen beobachtet – das würde in den USA unter rechten, libertären, Trump-nahen Republikanern ebenso wie unter linksliberalen Demokraten ziemliche Entgeisterung auslösen. Man würde es als „infringement upon the freedom of speech betrachten“. Daß der Verfassungsschutz Akteure „beobachtet“, die legal handeln, empört den Verfasser, vor allem wenn es Linke und Klimaschützer betrifft – aber dann überzeugt die Grundidee wohl doch nicht?

Richtig erkennt er jedenfalls, daß die Geheimdienstarbeit stets politischen Vorgaben folgt. Wer Verfassungsfeind ist, ist Ansichtssache, und diese Ansichten bilden sich nicht anhand von Argumenten und aufgrund von Tatsachen, sondern im Rahmen des politischen Willens derer, die regieren. Merkwürdig: „Der Chef dieses weltweit einmaligen Inlandsgeheimdienstes, der über politische Gruppen, auch politische Parteien, wachen soll, ist selbst Mitglied einer Partei. Und zwar fast immer derselben Partei, der auch der Innenminister angehört.“ Nur derzeit weicht der CDU-Mann Thomas Haldenwang mit einem anderen Parteibuch als seine Dienstherrin Nancy Faeser davon ab. 

Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen zeigen sich Schwächen: etwa wenn sich der Verfasser merklich daran stört, daß Leute, die sich eine konstitutionelle Monarchie mit dem Prinzen von Preußen an der Spitze wünschen, nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden – deren „Ideologie“ (worin bestünde diese überhaupt?) sei doch „autoritär“? Es ist zwar richtig, daß es selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber in der Bundesrepublik verwehrt wäre, diese in eine Monarchie umzuwandeln. Dies bedeutet aber nicht, daß auch der Bürger irgendwie daran gehindert wäre, die Monarchie besser zu finden.

Problematische Tätigkeitsbereiche schaden eher der Demokratie

Journalistisch gelungen zeichnet der Verfasser nach, wie das seinerzeitige Verfassungsschutz-„Gutachen“ zur bundesweiten Beobachtung der AfD mehrmals umgeschrieben werden mußte, bis es endlich ergab, daß die Aussage „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ (so Horst Seehofer 2018) aus dessen Mund völlig unbedenklich sei, vergleichbare Formulierungen von Björn Höcke jedoch klar die „Menschenwürde“ negierten. Es handelt sich bei solchen Schriften übrigens nicht um Rechtsgutachten, sondern um lange Sammlun-gen von Zitaten, die dann mit moralisierendem Unterton in teils völlig abseitiger Weise politisch bewertet werden. Daß der Verfasser solche „Gutachten“ – freilich aber offenbar ohne kritische Intention – als „Sündenregister“ bezeichnet, trifft die Sache ganz gut. Allerdings führt diese Kritik den Autor nicht zu der Schlußfolgerung, daß es mit der Verfassungsfeindlichkeit der AfD vielleicht gar nicht so weit her sei. Tatsächlich scheint er sogar eher zu finden, der Verfassungsschutz solle doch auch die CSU beobachten, deren Vertreter jedenfalls bis vor einigen Jahren nicht anders redeten als heute die AfD. 

Dabei insinuiert der Verfasser ständig, die „Agenten“ des Verfassungsschutzes seien Sympathisanten der politischen Rechten. Marine Le Pen hält er nach deutschen Maßstäben für eine „Gefahr für den Bestand der Demokratie“, weil sie „das Volk als Kulturnation begreift“ – Goethe wäre das dann aber auch. Wer – wie Erika Steinbach oder Hans-Georg Maaßen – die unkontrollierte Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme – Steinke nennt sie „Zuzug geflüchteter Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten“ – oder die Gendersprache kritisiert, ist für ihn ein „verkappter Rechtsradikaler“. Das wird bei Steinbach kurioserweise auch dadurch belegt, daß sie einmal Helmut Schmidt zitiert habe. Ein berühmtes Zitat des britischen Lyrikers  T. S. Eliot wird offenbar nicht erkannt, statt dessen zwei US-amerikanischen Politologen zugeschrieben; eine „Fangschaltung“ im Telefon bewirkt, daß der Ausgangsapparat zum Beispiel von Drohanrufen registriert wird, und dient nicht zum Abhören; und: Erkennbar ohne tiefere historische Sachkenntnis stellt der Verfasser sich vor, Wilhelm II. habe „mit eiserner Faust regiert“ sowie „den Ersten Weltkrieg mit angezettelt“. 

Aber dies ändert nichts an der Plausibilität der Grundthese: Letztlich sind beide großen Tätigkeitsbereiche des Verfassungsschutzes hochproblematisch. Wo der Verfassungsschutz völlig legale Tätigkeiten überwacht und die Ausübung der Meinungsfreiheit durch willkürliche Etikettierung als extremistisch öffentlich denunziert, schadet er der Demokratie. Wo er sich als Hilfspolizei betätigt, rettet er nicht selten Leben, agiert aber eben auch gegen Straftäter außerhalb der eigentlich geltenden Regeln für die Strafverfolgung. In den USA gelten Parteien und ihre Führungen, nicht etwa staatliche Behörden unter dem Kommando eines Innenministers, als „Wächter der Demokratie“. Da kann man eben einmal sehen, was ein freiheitlicher Staat ist – nicht nur beim Waffenrecht.

Ronen Steinke: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht. Enthält den Fall Hans-Georg Maaßen. Berlin Verlag, Berlin 2023, gebunden, 224 Seiten, 24 Euro