© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

In der Achsenzeit der Revolution von 1848
Vor 175 Jahren löste der Waffenstillstand von Malmö die mitteleuropäische Revolutionswende aus
Oliver Busch

Auf den ersten Blick scheint der am 26. August 1848 zwischen den Kriegsparteien Preußen und Dänemark vermittelte Waffenstillstand von Malmö ein historisches Kalenderblatt zu sein, das kaum flüchtige Aufmerksamkeit verdient. Tatsächlich läutet dieses historische Datum jedoch die „Achsenzeit der deutschen März-Revolution“ (Wolfram Siemann, 1985) und die allgemeine europäische Revolutionswende vom Herbst 1848 ein. „Malmö“ steht zugleich für die erinnerungspolitisch gern verdrängten außenpolitischen Determinanten, die den Ablauf des ersten deutschen Experiments mit der parlamentarischen Demokratie weit stärker bestimmten als die Abstimmungen und Entschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung. Dort in der Paulskirche, so lautete lange der Standardvorwurf gegen das von angeblich weltfremden Professoren dominierte Honoratiorenparlament, versandete die Dynamik der März-Revolution, die ohnehin schon „vor den Thronen Halt gemacht“ habe, rasch in endlosen verfassungspolitischen Debatten, so daß schwer angeschlagene Monarchien ausreichend Zeit fanden, sich zu erholen und für die Gegenrevolution zu rüsten.

Aber ausgerechnet für jenen Schauplatz, auf dem die Weichen dafür gestellt wurden, daß die Revolution ins Räderwerk der europäischen Gleichgewichtspolitik geriet, stößt die Klage über den womöglich typisch deutschen Mangel an Talent zur Revolution ins Leere. Denn dort, zwischen Altona und Apenrade, hatten die Führer der liberal-konservativen deutschen Bewegung eine provisorische Regierung gebildet und den dänischen König Friedrich VII., soweit er in Personalunion auch Landesherr in den Herzogtümern war, mit einer Proklamation vom 24. März 1848 entthront. 

Obwohl der Aufruf nur eine vorläufige Enthebung des Monarchen von seinen Funktionen aussprach und eine offene Absetzung genauso vermied wie eine Unabhängigkeitserklärung für Schleswig und Holstein, so bedeutete der revolutionäre Akt doch genau das. „Einzig in Schleswig-Holstein kam es in der deutschen Revolution von 1848 zu einem solchen unmittelbaren Angriff gegen den Repräsentanten der Dynastie.“ Einzig in den Elbherzogtümern, waren auch nicht republikanisch-demokratische, sondern rein nationalpolitische Motive für diesen Angriff auf das Recht der Krone und die Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts des Volkes gegen den Souverän bestimmend (Ernst Rudolf Huber, 1968). 

Durch den Druck Englands und Rußlands zum Frieden gedrängt

Und es kam noch eine weitere Besonderheit hinzu, die dem Gang der Ereignisse bis zum Sommer 1848 die Richtung vorgab. Das Frankfurter Vorparlament faßte am 31. März ohne Zögern den Beschluß, das Herzogtum Schleswig, das Friedrich VII. auf Drängen der in Kopenhagen zur Macht gelangten ultranationalistischen „Eiderdänen“ am 21. März dem Königreich per Dekret „einverleibt“ hatte, in den Deutschen Bund aufzunehmen, zu dem es im Unterschied zu Holstein bis dahin nicht gehörte. Am 22. April behandelte der Bundestag dieses Aufnahmegesuch zwar dilatorisch, sprach aber – wiederum „ein einzigartiger Fall“ (Huber) – die staatsrechtliche Anerkennung der revolutionär gebildeten Regierungsgewalt in den Herzogtümern in aller Form aus und sanktionierte damit die schleswig-holsteinische Erhebung. 

Derart verknüpfte der Bundestag und an dessen Stelle dann vom Mai an die in der Frankfurter Paulskirche tagende Nationalversammlung das Schicksal des keimenden demokratischen Staatswesens unlöslich mit dem nationalen Konflikt im Norden.Der mündete bereits kurz nach der Proklamation vom 24. März in einen Krieg. Dänische Truppen waren zum Vollzug des „Einverleibungsdekrets“ in Schleswig eingedrungen. Die Herzogtümer bedurften zu ihrer Abwehr deutscher Hilfe, die nur Preußen geben konnte, das sich Anfang April zur militärischen Intervention entschloß. Den zügigen Vormarsch der durch Truppen des Deutschen Bundes unterstützten preußischen Regimenter über die Eider hinweg bis hinauf nach Nordschleswig, beantworteten die Dänen mit einer Blockade der wichtigsten preußischen Ostseehäfen. Erst unter dem Druck Englands und Rußlands kamen die militärischen Operationen in Jütland zum Stillstand. Beide Großmächte fürchteten aus unterschiedlichen Gründen den sich mit der deutschen Einheit ankündigenden Aufstieg eines Konkurrenten. Dänemark avancierte für ihre Diplomaten daher zum Eckstein der auf dem Wiener Kongreß fixierten europäischen Friedensordnung, den anzutasten für sie den Casus belli bedeutet hätte. 

Den „traumhaften und gefährlichen Unsinn, genannt deutsche Nationalität“, so höhnte der spätere britische Premier Benjamin Disraeli im April 1848 im Unterhaus, galt es also rechtzeitig in die Schranken zu weisen. Zumal, wie er zu wissen glaubte, mit Preußens Vorstoß das Fundament einer neuen Seemacht an Nord- und Ostsee gelegt werden konnte. Für das autokratische Zarenreich wiederum war die eines Tages vielleicht von Preußen-Deutschland ausgeübte Kontrolle über die Ostseezugänge an Belt und Sund so unerwünscht wie die Verwandlung des Deutschen Bundes in einen demokratisch regierten Einheitsstaat, an dem auch das im Hintergrund agierende Frankreich nicht das geringste Interesse zeigte. Den „Weg nach Westen“ wollten London und Paris um der bloßen Solidarität mit Liberalen und Demokraten willen den Deutschen jedenfalls nicht ebnen.

Stattdessen drängte man sie, in Gestalt preußischer Unterhändler, im Juni 1848 an den Verhandlungstisch in Malmö um unter Vermittlung Schwedens und Englands einen Waffenstillstand mit Dänemark zu schließen. Als der am 26. August ohne die Einschaltung des inzwischen in Frankfurt etablierten Reichsverwesers und seines Kabinetts, unter klarer Mißachtung der obersten Zuständigkeit der Nationalversammlung in gesamtdeutschen, auswärtigen und militärischen Angelegenheiten, durch die Unterschrift eines preußischen Generals zustande kam, reagierte die öffentliche Meinung, die Vorgänge in Schleswig-Holstein schon zu vormärzlicher Zeit stets als deutsche Nationalangelegenheit wertete, mit dem Vorwurf des „nationalen Verrats“. Dieser wog umso schwerer, da Dänemark die Annullierung aller Rechtsakte der revolutionären Landesregierung, die Räumung Schleswig-Holsteins von allen Bundestruppen sowie die Ernennung eines stramm dänisch gesinnten Verwaltungschefs durchsetzte, so daß es der angestrebten Einverleibung Schleswigs in den Gesamtstaat wieder näher rückte.

In der Nationalversammlung machte sich der rechtsliberale Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, ein prominenter Vorkämpfer schleswig-holsteinischer Rechte seit 1815, zum Anwalt der Ablehnung der Malmöer Vereinbarung. Rückhalt für seine Position gewann er jedoch nicht bei den eigenen Fraktionen, die „realpolitisch“ dafür stimmten, den Waffenstillstand zu ratifizieren, während sich nichtpreußische Konservative, das linke Zentrum und die gesamte Linke dagegen stemmten. Das reichte am 5. September 1848 zwar für einen knappen Abstimmungssieg zugunsten einer Aussetzung des Truppenabzugs und für den Sturz des zur Annahme des Vertrags von Malmö entschlossenen Reichskabinetts. 

Parlamentarisches System versagte bei seiner ersten Bewährungsprobe

Doch Dahlmann vermochte aus seiner heterogenen Anhängerschar keine regierungsfähige Koalition zu bilden. Die Regierungskrise wuchs sich darum zur Parlamentskrise aus. Mithin war Dahlmanns Scheitern nicht nur eine persönliche Niederlage: „Es war auch eine Niederlage des parlamentarischen Systems, das sich bei seiner ersten Bewährungsprobe als ungeeignet erwies, die eingetretene Krise zu bewältigen. Daß das konstitutionelle System [anstelle des rein demokratisch-parlamentarischen] sich in Deutschland später so lange behauptete, war nicht zuletzt eine Nachwirkung dieses bedeutenden Präzedenzfalls, in dem die siegreiche Parlamentsmehrheit sich außer Stande zeigte, die Regierungsverantwortung an Stelle des gestürzten Ministeriums zu übernehmen.“

Die Lösung der Krise glückte, als die Nationalversammlung nach einer mehrtägigen Redeschlacht dem Vertrag von Malmö am 16. September mit knapper Mehrheit zustimmte, nicht zuletzt aus der Einsicht, mit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen einen allgemeinen europäischen Krieg gegen Preußen-Deutschland zu riskieren. Dieser Einsicht verweigerte sich die radikale bürgerliche Linke in der Paulskirche. Sie forderte eine Fortsetzung des Bundeskrieges gegen Dänemark, um nach dem Vorbild der französischen Jakobiner diesen „Volkskrieg“ zur „Zweiten Revolution“ auszuweiten, die den im März 1848 etablierten konstitutionellen, bürgerlich-liberalen Verfassungskompromissen den Garaus machen sollte. 

Die Linke und ihr außerparlamentarischer Anhang in der „Zivilgesellschaft“ wagten daher am 16. September, dem Tag ihrer Abstimmungsniederlage, in Frankfurt die „direkte Aktion“, mit der Besetzung der Paulskirche, mit Barrikadenkampf und Mord an zwei konservativen Abgeordneten, die für Malmö gestimmt hatten. Diesen Aufstand schlugen Bundestruppen schnell nieder, und ihr Sieg war das Signal, um die März-Revolution in ganz Mitteleuropa blutig zu beenden. Gerade der Frankfurter Abgeordnetenmord sei für die dadurch moralisch bloßgestellte Linke einer verlorenen Schlacht gleichgekommen. Denn nichts, resümiert Ernst Rudolf Huber, habe die bürgerliche Mitte mehr auf die Seite der Reaktion getrieben als dieser Vorgang, in dem die revolutionäre Gewalt sich in blinden Terror verkehrt hatte. Den zu ersticken in Frankfurt übrigens ein in Menschenverachtung geübter Pensionär namens Arthur Schopenhauer ein klein wenig beitrug, als er einem Offizier seinen „großen doppelten Operngucker“ lieh, damit er präziser ziele auf die „souveräne Kanaille“.