© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Eine Identität schaffen
Normandie: Eine Ausstellung im nordfranzösischen Caen informiert über Wikinger und Normannen
Karlheinz Weißmann

Der Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts erfaßte auch Minderheiten, die entweder gar keine oder nur sehr begrenzte Aussicht auf Schaffung eines eigenen Staates hatten. Manchmal verbreitete sich ein neues Volksbewußtsein in allen Schichten – vor allem wenn sie eine gemeinsame Sprache verband –, manchmal nur in den Eliten.

Beschränkt man sich auf den französischen Fall, sind der bretonische, baskische, okzitanische, in gewissem Sinn auch der korsische Regionalismus der ersten Kategorie zuzurechnen, während der normannische in die zweite gehört. Denn die Normandie hatte aufgrund der skandinavischen Landnahme an der Schwelle vom 9. zum 10. Jahrhundert, dann wegen der engen Verbindung mit England im 11. und 12. Jahrhundert zwar eine ausgeprägte Sonderstellung unter den Provinzen Frankreichs, die aber in der Folge rasch verlorenging. Bezeichnend ist, daß sich Ortsnamen germanischen Ursprungs bis heute erhalten haben, aber der normannische Dialekt wenige nordische Lehnworte enthielt und schon zum Zeitpunkt der Französischen Revolution fast nur noch von der Landbevölkerung gesprochen wurde.

Diese Faktoren machen verständlich, warum die „Normannische Bewegung“ vor allem auf Gebildete Einfluß gewann. Ein Thema, dem sich die Ausstellung „Des Vikings et des Normands“ des Musée de Normandie in Caen widmet. Hier werden die Romantik, die „Germanische Renaissance“ in Skandinavien, Großbritannien und Deutschland sowie das neue Interesse an heimischer Archäologie und Volkskunde als Ursachen für das Entstehen jener „Imaginationen“ und „Repräsentationen“ genannt, die der Schaffung einer normannischen Identität dienten. Ihren Ausdruck fand die weniger in den Bemühungen, das normannische patois zu beleben, eher in der Bildung von Vereinigungen geselligen oder gelehrten Charakters, Veröffentlichungen wissenschaftlicher oder populärer Natur, in der Gestaltung von Alltagsgegenständen in „normannischem“ Stil und der Schaffung von Kunstwerken. 

In der Kunst ging es immer auch um didaktische Absichten

In Caen dokumentiert man sehr überzeugend das anhand von Darstellungen der germanischen – also auch normannischen – Götter, die ursprünglich naiv waren, sich später an klassisch griechischen oder römischen Mustern orientierten, um bald darauf die Erkenntnisse der Vorgeschichtsforschung einzubeziehen und so zu einem adäquateren Bild zu kommen. Ein ähnlicher Prozeß fand auch in der Historienmalerei statt, die anfangs keine oder nur eine ungefähre Idee vom Aussehen eines Wikingerschiffs oder frühmittelalterlicher Kleidung, Rüstung und Bewaffnung hatte, um schließlich mit fast wissenschaftlicher Präzision die Ereignisse der Vergangenheit zu illustrieren.

Zweifellos ging es dabei nie um Kunst als Selbstzweck, sondern immer auch um didaktische Absichten. Noch deutlicher werden diese an den Illustrationen für Kinderbücher, Schulwandtafeln oder Sammelbilder oder am Eindringen „normannischer“ Themen in alle möglichen Formen der Warenwelt: vom Plakat, das für Fernreisen nach Dänemark warb, über die Biermarke mit dem Krieger samt Hörnerhelm bis zum Brot, dessen Verzehr die Kraft eines Wikingers verhieß.

Wenn solche Motive auf Resonanz stießen, dann auch, weil sich seit dem 18. Jahrhundert eine prinzipielle Umwertung der Figur des „Nordmanns“ vollzogen hatte. Galt er bis dahin nur als heidnischer Rohling, dem jede Form von wahrer Religion und Kultur fehlte, erschien er nun als europäische Variante des „edlen Wilden“, der in der Folge zum kraftvollen Barbaren wurde, den man der bürgerlichen Dekadenz gegenüberstellte, oder der als kühner Entdecker und Eroberer eine Präfiguration des europäischen Kolonialherrn abgab und es dem Normannen erlaubte, sich als „Sohn der Rasse der Tapferen“ zu verstehen, wie es in einer zeitgenössischen Publikation hieß.

Die positive, vielfach glorifizierende Sichtweise des Normannischen erreichte ihren Höhepunkt 1911, als die Normandie ihre Tausendjahrfeier mit einer großen Zahl aufwendiger Feste, akademischer Kolloquien, Ausstellungen, Aufführungen und einer Flut von Veröffentlichungen beging. Bezugspunkt war jener Akt, mit dem der Wikingerführer Rollo die Taufe genommen und die Normandie als Herzogtum vom westfränkischen König zu Lehen erhalten hatte. Was dann folgte, war faktisch nur mehr Normalisierung. Das Normanne-Sein wurde zu einer harmlosen Form regionaler Identität, der niemals dasselbe politische Potential innewohnte wie der bretonischen, baskischen, okzitanischen oder korsischen.

Diese Feststellung galt selbst für den Umkreis des Journalisten Jean Mabire, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeitschrift Viking gründete – von der eine Nummer exemplarisch in Caen präsentiert wird – und der den Versuch unternahm, der normannischen Bewegung mehr Dynamik einzuflößen. Ein Anlauf, der noch in seiner Vergeblichkeit Respekt abnötigt.

Die Ausstellung „Des Vikings et des Normands – Imaginaires et représentations“ wird bis zum 1. Oktober im Musée de Normandie in Caen gezeigt. Der Katalog (208 Seiten, zahlreiche Abbildungen) ist nur in französischer Sprache verfügbar.

 https://musee-de-normandie.caen.fr