© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Dorn im Auge
Christian Dorn

Im Autoradio endet die Bayreuth-Reportage des Deutschlandfunks, des Senders für den „kranken Mann Europas“ (The Economist), mit Richard Wagners Diktum, das aus einem Brief an seinen Förderer (und späteren Schwiegervater) Franz Liszt vom 8. September 1852 stammt: „Kinder, schafft Neues!“ Ist es Zufall? Jedenfalls hallt es in mir nach, als ich Sekunden später an der Kreuzung abbiege – direkt auf Höhe des Eingangstores zur Grundschule „Anne Frank“, aus dem gerade die Erstkläßler mit ihren Eltern von der Einschulung kommen. Es herrscht sengende Hitze. Keiner der Kleinen trägt die Zuckertüte oder den Ranzen selbst. An meinen eigenen Einschulungstag ebenda kann ich mich – bis auf den orange-farbenen Lederranzen – kaum erinnern, wohl aber, daß es damals noch die „POS Anne Frank“ war, also eine Polytechnische Oberschule, so die allgemeine Bezeichnung im Arbeiter- und Bauernstaat. 

Nicht nur stehlen sie unser Steuergeld, an der Kasse stehlen sie uns auch noch unsere Zeit.

Kurz nach der Ampel liegt hinter der nächsten Kreuzung der „Thälmannpark“, der heute namenlos ist – und inzwischen ein malerischer englischer Garten. Dieses Kleinod ist, in Zeiten der Ampelregierung, schließlich auch den All-Inclusive-Gästen des Willkommenswahns aufgefallen, inzwischen alle mit bunten Plastik-Armbändern gekennzeichnet, die sich in kleinen Gruppen in schattigen Ecken der Büsche und Bäume niederlassen. Derweil ertappe ich mich immer öfter bei einem Anflug von Neid ob dieses provozierenden Müßiggangs, gefolgt von Zorn angesichts dieses andauernden Zustands, der wirklich nichts anderes ist als die „Herrschaft des Unrechts“. Nicht nur bekommen sie unser Steuergeld, nein, an der Rewe-Kasse gegenüber vom Park stehlen sie uns – natürlich mit unserem Geld! – auch noch unsere Zeit. Vom einstigen Thälmann-Denkmal, wo wir einst in der Liturgie sozialistischer Heilsgewißheit als Thälmannpioniere „geweiht“ wurden, steht derweil nur noch der Sockel – und an ganz anderer Stelle, als ich es in Erinnerung habe. Dort, wo ich es vermutet hatte, malträtierte unlängst ein halbes Dutzend dieser Fachkräfte einen anderen „Schutzsuchenden“ mit Faustschlägen, Tritten, Gürtel etc. Die sture Gewalt wirkte außerordentlich befremdlich. Kein Wunder, daß tagtäglich, oft mehrfach, Mannschaftswagen der Polizei mit Blaulicht in Richtung der einstigen Sowjetkasernen rasen, in denen die Migranten, darunter viele Nordafrikaner, untergebracht sind. In persönlichen Gesprächen über diese „Fachkräfte“ bekomme ich immer öfter Ausdrücke zu hören, die – selbst in Anführungszeichen oder indirekter Rede – hier nicht zitierfähig wären.


Während ich dies schreibe, hänge ich dem Kontrafunk-Vortrag („Die Tyrannei der Wehleidigen“) des Medienphilosophen Norbert Bolz nach und dessen Fazit, es erfordere heute schon Mut, das Wort „normal“ auszusprechen. Komme ich also aus der Zukunft? Vor beinahe zwei Jahrzehnten beendete A., einst FDJ-Sekretärin der EOS „Bertolt Brecht“, abrupt das Gespräch oder vielmehr ihr Verhör mit mir (warum ein „Freigeist“ wie ich für die JF arbeite), als wir uns gerade über Homosexualität unterhielten: „Du hast ‘normal’ gesagt!“