© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Die Schöne an der Neiße
Geschichtsbuch: Im Senfkorn-Verlag ist der Bildband „Görlitz zum Verlieben“ erschienen
Paul Leonhard

Das Titelbild zeigt zwei der markanten Türme der Stadt, den der Dreifaltigkeitskirche mit ihrem riesigen Schiff und den Reichenbacher Turm. Dann fällt der Blick zurück auf den Obermarkt mit den ihn säumenden Wohn- und Geschäftshäusern, folgt der Dachlandschaft einer 56.000-Einwohner-Kommune bis ins Grüne zur Landeskrone, dem Hausberg einer Stadt, über deren geographische Verordnung sich die Bürger seit Jahrzehnten streiten: Sachsen, Schlesien, Lausitz.

„Görlitz zum Verlieben“ ist der Bildband überschrieben, den der vor einem Vierteljahrhundert von der Eifel an die Neiße gezogene Verleger Alfred Theisen, einst Mitarbeiter des Vertriebenen-Politikers und CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Hupka und Herausgeber der Zeitschrift Schlesien heute, herausgegeben hat. Die Aufnahmen stammen von Rainer Kitte, der seit Jahrzehnten mit der Kamera in der Hand den Wandel der größten schlesischen Stadt der Bundesrepublik dokumentiert und gemeinsam mit Theisen zahlreiche Kalender mit Görlitz-Motiven herausgebracht hat.

Im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört

Das fotografische Gedächtnis des alten Görlitz, wie es die Einheimischen noch heute lieben, stammt aber von Fotografenmeister Robert Scholz (1843–1926). Er hielt mittels Platten nicht nur Menschen, Landschafts- und Wolkenmotive fest, sondern vor allem alte und neue Bauwerke. Und dank zahlreicher Reproduktionen in Ausstellungen, Publikationen und auf den vom Ratsarchiv herausgegebenen Kalendern – die Stadt übernahm in den 1970er Jahren mehr als 4.000 belichtete Glasplatten – haben die Görlitzer die Architekturaufnahmen von Scholz und die aktuellen ihres eigenen Gedächtnisses vor Augen, wenn sie von ihrer einzigartigen Stadt schwärmen, die zu den wenigen deutschen Städten gehört, die im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört und nach der deutschen Kapitulation auch nicht wie das nahe Herrnhut von den Siegern gebrandschatzt wurde.

Was Scholz für das ausgehende 19. Jahrhundert und das beginnende 20. Jahrhundert war, ist vielleicht der 1942 in Görlitz geborene Rainer Kitte für das des ausgehenden 20. und beginnende 21. Jahrhundert. In sechs Jahrzehnten hat er als Fotograf den Wandel der Stadt und ihren Alltag festgehalten – Verfall, Sanierung und Abriß in zwei konträren Gesellschaftsordnungen. Da aber die Stadtverwaltung Leistungen ihrer Bürger wenig würdigt – der aktuell regierende, aus Rumänien nach Deutschland geflüchtete CDU-Oberbürgermeister bildet da keine Ausnahme –, zerstritt man sich mit Kitte über den Ankauf seines zwischen 100.000 und 150.000 Aufnahmen umfassenden Lebenswerkes für das Stadtarchiv, darunter nach Einschätzung eines Archivars der Universität Leipzig etwa 5.000 zeitgeschichtlich interessante Motive. 

Zu den Stadtansichten fehlen erläuternde Texte

Die Stadt war auf Anregung des aus Görlitz stammenden sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer bereit, dafür 17.500 Euro zu zahlen, finanziert vor allem aus einem Fördermittelfonds, letztlich scheiterten die Verhandlungen an einer Klausel, nach der die Verwertungsrechte künftig allein und allumfassend beim Ratsarchiv liegen sollten, in dem sich bereits Kittes Papierbilder aus DDR-Zeiten befinden. Daß der Bildband „Görlitz zum Verlieben“ erscheinen konnte, ist letztlich dem Umstand zu verdanken, daß keine der beiden Seiten nachgeben wollte.

 Etwa 140 dieser Aufnahmen sind in dem Kitte-Band vereint, welcher den „Reiz und die Schönheit seiner Heimatstadt als einzigartiges Geschichtsbuch in Stein und Farbe herausstellen“ soll, so Theisens Senfkorn-Verlag in der Eigenwerbung. Das Buch sei „eine ideale Geschenk- und Werbeidee für alle Görlitzer und Liebhaber der Europastadt an der Neiße“. Kitte sei nach dem Zusammenbruch der DDR „einer der ganz wenigen ortskundigen professionellen Fotografen“ gewesen und „weiß genau, aus welcher Perspektive und bei welchem Licht bestimmte Motive am besten zur Geltung kommen“, schwärmt Theisen in einem Interview mit der Görlitzer Ausgabe der Sächsischen Zeitung. Derartige Aufnahmen könne niemand machen, der nur für einen Tag in Görlitz ist.

Theoretisch hätte ein so umtriebiger Verleger wie Theisen zusammen mit Kitte eine ganze Reihe von spannenden Görlitz-Bildbänden, geordnet nach Jahrzehnten, vorbereiten können. So aber griff der Verleger offensichtlich auf eine Auswahl jener mehr als 2.000 Farbdias aus der Nachwendezeit zurück, an denen die Stadt schon wenig Interesse gezeigt hatte. „Görlitz zum Verlieben“ wird jedenfalls dem fotografischen Können Kittes kaum gerecht.

Käufer dürften zudem orientierungslos durch das Buch blättern, weil sie nichts über die Stadt selbst erfahren. Denn abgesehen von einem einseitigen Vorwort des Verlegers, das im wesentlichen aus Zitaten des 2011 verstorbenen Gründers der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und erklärten Görlitz-Liebhabers („eine der schönsten Städte Deutschlands“) Gottfried Kiesow sowie des früheren Bundesbauministers Klaus Töpfer besteht, werden sie mit den abgedruckten Stadtansichten allein gelassen. Es gibt keine erläuternden Texte, keine Hinweise, wann die Aufnahmen entstanden sind, noch wo sich die abgebildeten Gebäude und Portale befinden, keine Übersichtskarte, nicht einmal eine Chronologie über 950 Jahre Stadtgeschichte.

 Der über 80jährige „Görlitzer Meisterfotograf“ (Theisen) Rainer Kitte hätte gewiß auch Geschichten und Anekdoten zu seinen Fotos erzählen können. Ob er mit der von ihm getroffenen Auswahl – viele Aufnahmen wirken wie beliebige Schnappschüsse eines Touristen – tatsächlich zufrieden ist? Immerhin heißt es in dem Buch ausdrücklich, daß Bildauswahl und Gestaltung von Kitte vorgenommen wurden. Und in seinem Zeitungsinterview betont Theisen, daß für Kitte – der seinen ersten Görlitz-Bildband bereits 1975 im damaligen DDR-Verlag Zeit im Bild veröffentlichen konnte – das Buch „der krönende Abschluß seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Bildjournalist für seine Heimatstadt“ sei.

Rainer Kitte: Görlitz zum Verlieben. Senfkorn-Verlag, Görlitz 2022, gebunden, 112 Seiten, 140 Fotos in Farbe, 21,90 Euro