© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Interstellare Machtkämpfe
Europäische Weltraumorganisation: Mit einem ambitionierten Projekt will die Behörde anderen globalen Mächten Konkurrenz machen / Auch die Privatwirtschaft blickt mit Spannung auf die neuesten Entwicklungen / Eine Bestandsaufnahme
Marc Zoellner

Noch herrscht gespannte Aufregung unter den Mitarbeitern des „Centre spatial guyanais“, des Weltraumhafens der französischen Raumfahrt-agentur „Centre national d’études spatiales“, gelegen an der malerischen südamerikanischen Atlantikküste unweit des kleinen Örtchens Kourou im französischen Übersee-Département Guayana. Gleich drei wichtige Systemtests stehen für den französischen Raumfahrtkonzern „ArianeGroup“ in den kommenden Wochen auf dem Plan. Rückschläge darf es dabei keine mehr geben: Jede einzelne Verzögerung könnte dem Konzern Umsatzausfälle in Milliardenhöhe bescheren – und die europäische Raumfahrt auf absehbare Zeit aus dem hart umkämpften Markt des raketenbasierten Frachttransports katapultieren.

Mit der Beauftragung der ArianeGroup verbindet die Europäische Weltraumorganisation (ESA), der 21 EU-Staaten sowie Großbritannien angehören, eine wichtige Hoffnung: nämlich in die Funktionstüchtigkeit ihrer „Ariane 6“-Trägerraketen, die sich derzeit im Endstadium der Entwicklung befinden. Erst im Juli dieses Jahres wurde ihr Vorgänger, die „Ariane 5“, nach 27jähriger Entwicklungszeit ausgemustert. Im Wettbewerb mit der internationalen Konkurrenz und vor allem mit privaten Weltraumunternehmen hatten sich insbesondere ihre Antriebssysteme schlußendlich als zu ineffizient, überholt und vor allem zu teuer erwiesen. Der Start einer einzelnen Rakete wurde zuletzt mit bis zu 200 Millionen Euro kalkuliert.

Die „Ariane 6“ setzt hingegen auf völlig neue Antriebssysteme wie das „Vinci“-Triebwerk, das mit einer Mischung aus Flüssigwasserstoff und Flüssigsauerstoff betankt wird, beide herabgekühlt auf minus 253, beziehungsweise minus 183 Grad Celsius. Ebenso wird der „Ariane 6“ erstmalig ein Hilfstriebwerk auf der obersten Stufe der Rakete beigefügt, um das Aussetzen gleich mehrerer Satelliten im Orbit zu ermöglichen. Optimistisch schätzt die ArianeGroup eine Kostenreduktion um den Faktor zwei – in diesem Fall um bis zu 100 Millionen Euro pro Raketenstart. Für potentielle Kunden aus der Privatwirtschaft, die tatsächlich bereits Schlange stehen, bedeutet die Ersparnis ein einträgliches Geschäft. Allein der Amazon-Konzern, so verriet das Unternehmen im April 2022, buchte seit vergangenem Jahr mindestens 18 Raketenstarts für sein „Project Kuiper“ – eine geplante weltweite Internetverfügbarkeit via Satellitennetzwerk. Bei Entwicklungskosten von bislang 3,6 Milliarden Euro kann die ArianeGroup auf zahlungskräftige Kunden wie Amazon kaum verzichten.

Doch die Zeit drängt, und das gleich in 

zweierlei Hinsicht: Ursprünglich sollte die „Ariane 6“ bereits 2020 ihren Jungfernflug antreten. Die Corona-Pandemie torpedierte die finalen Vorbereitungen jedoch. Globale Lieferketten wurden abrupt unterbrochen, die Reisefähigkeit vieler Mitarbeiter wurde eingeschränkt, das Personal saß oftmals in Quarantäne fest. Bereits für 2020 zur Ausmusterung vorgesehen, erlebte die „Ariane 5“ zur Weihnachtszeit 2021 daher noch einen letzten Höhepunkt mit dem „James-Webb-Weltraumteleskop“ als Weltraumfracht. Der erste Start einer „Ariane 6“ mußte erst auf Juni 2022, im Anschluß gar auf 2024 verschoben werden. „Wir werden natürlich alles für einen erfolgreichen Start tun“, gab sich Franck Huiban, Manager des Zivilflugprogramms der ArianeGroup, damals noch zuversichtlich. „Ein Starttermin ist wichtig, aber ein erfolgreicher Start ist noch wichtiger. Wir brauchen diesen ersten Start als Erfolg.“

Förmlich auf glühenden Kohlen sitzt die ArianeGroup in Hinblick auf ihre letzten Systemstarts der kommenden Wochen. Denn auch ihren bisher akquirierten Kunden rinnt die Zeit durch die Finger. Erst im Juli 2020 hatte sich Amazon mit der US-Behörde „Federal Communications Commission“ (FCC), die unter anderem für die Vergabe für Satellitenlizenzen zuständig ist, auf die Erlaubnis zum Aussetzen von insgesamt 3.236 Satelliten für ihr eigenes Internetnetzwerk einigen können. Mit zehn Milliarden US-Dollar, ein Großteil davon für den Weltraumtransport kalkuliert, verschlingt die Projektentwicklung einen guten Anteil des firmeneigenen Stammkapitals. Amazons „Project Kuiper“ ist als direkte Konkurrenz zum „Starlink“-Netzwerk geplant, das von Elon Musks Weltraumunternehmen „SpaceX“ betrieben wird.

Indien reiht sich ein in die großen Raumfahrtnationen

Das Abkommen zwischen Amazon und der FCC hat jedoch einen entscheidenden Haken – der Zeitplan ist von der Behörde strikt vorgegeben. So hat Amazon die Hälfte seiner geplanten Satelliten bereits nach sechs Jahren, also bis spätestens Juli 2026, in den Orbit zu verfrachten, die 

andere Hälfte bis spätestens Juli 2029. Im Interview mit der US-Zeitschrift SpaceNews, spezialisiert auf Raumfahrt und Satellitentechnologie, erklärte ein Konzernsprecher unmißverständlich, Amazon habe „mit jedem großen Startanbieter gesprochen und wird weiterhin alle Optionen für zukünftige Startdienste prüfen“. Sprich: Sollte eines der Weltraumunternehmen ausfallen, würde Amazon ohne Zögern den Anbieter wechseln. Die mit der US-Behörde geschlossenen Verträge würden das Unternehmen streng „auf dem richtigen Weg halten, die in der FCC-Lizenz festgelegten Fristen einzuhalten“, so der Konzernsprecher.

„Die Sicherung der Startkapazität mehrerer Anbieter war vom ersten Tag an ein wichtiger Teil unserer Strategie“, bestätigte Rajeev Badyal, Vizepräsident für Technologie bei Amazon, im selben Interview mit SpaceNews. „Dieser Ansatz reduziert das Risiko, das mit Stillständen der Trägerrakete verbunden ist, und unterstützt langfristig wettbewerbsfähige Preise für Amazon.“ Einen beträchtlichen Teil des Auftragspakets hatte Amazon bereits vorab an die beiden Weltraumunternehmen „Blue Origin“ und „United Launch Alliance“ vergeben; erstere von Amazon-Gründer Jeff Bezos im Jahr 2000 ins Leben gerufen, letztere ein Joint Venture der „Lockheed Martin Corporation“ und der „Boeing Company“; zweier bereits fest etablierter Technologiekonzerne. Die versprochenen Kapazitäten der ArianeGroup genügten Amazons Ansprüchen von Beginn an nicht. Heinrich Vaske, Chefredakteur der IT-Wochenzeitschrift Computerwoche, schätzt in einem jüngst erschienenen Beitrag den Bedarf auf „mindestens zwei Starts pro Monat […], vielleicht sogar mehr“. Als eher unwahrscheinlich gilt eine Anfrage Amazons an „SpaceX“. Zwischen Jeff Bezos und „SpaceX“-Unternehmer Elon Musk herrscht speziell in Fragen der kommerziellen Erschließung des Weltalls ein ausgeprägtes Konkurrenzbewußtsein.

Weniger aus Konkurrenzgründen, sondern primär um eine eigene technologische Unabhängigkeit zu bewahren, stützen die ESA-Mitgliedsstaaten die Fortentwicklung ihres „Ariane“-Programms. Zuletzt mußte das europäische Raumfahrtprogramm aufgrund des Ukrainekriegs deutliche Rückschläge erleiden. Als Teil des Sanktionspakets gegen Moskau hatte die ESA bereits im März 2022 die Zusammenarbeit mit Rußlands Raumfahrtagentur „Roskosmos“ im „ExoMars“-Vorhaben aufgekündigt. Nur einen Monat später folgte die Terminierung von gleich drei Missionen zum Mond. Dabei versprach gerade „ExoMars“ wissenschaftliche Hochspannung: Mittels einer Trägerrakete russischer Bauart, der „Proton“, sollte ein von der ESA entwickelter unbemannter Rover auf den Mars transportiert werden, um dort nach Spuren einstigen Lebens zu suchen. Eine Neuaufnahme dieser Mission plant die ESA derzeit in Kooperation mit der US-Raumfahrtbehörde NASA für das Jahr 2028. Für ihre Mondmissionen möchte die Behörde allerdings ihre eigenen „Ariane“-Raketen priorisieren, ebenso wie für bislang zehn geplante Satelliten des europäischen „Galileo“-Navigationssystems.

„Die Zeit, unsere Ambitionen für ein starkes, autonomes und widerstandsfähiges Europa im Weltraum zu verwirklichen, war noch nie so wichtig wie heute“, schrieb ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher im Frühjahr vergangenen Jahres auf Twitter. Die ESA müsse sich „weiterentwickeln und an die neue geopolitische Neuausrichtung im Weltraum anpassen“. Als Fundament dieser Neuausrichtung ist das Ariane-Programm unabdingbar. „Ariane 6 wird in erster Linie entwickelt, um den Startbedürfnissen europäischer institutioneller Kunden, darunter der Europäischen Kommission, der ESA und der Mitgliedstaaten, gerecht zu werden“, bestätigt Franck Huiban von der ArianeGroup. „Jede Weltraummacht muß einen nachhaltigen, unabhängigen und zuverlässigen Zugang zum Weltraum aufrechterhalten. Der kommerzielle Markt kommt danach hinzu.“

„Unser Erfolg wird die Welt verändern“

Einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zur autarken Weltraumforschung haben in diesen Tagen tatsächlich zwei andere Staaten vollbracht, nämlich Rußland und Indien – mit gemischten Erfolgen. Bereits am 14. Juli war die „Chandrayaan 3“-Rakete der indischen Weltraumbehörde „Indian Space Research Organisation“ auf ihrem Weg zum Mond gestartet. Wenig später koppelte ihr Landungsmodul erfolgreich vom Trägersystem ab. Eine Landung auf der Mondoberfläche – die erste überhaupt in der Geschichte Indiens – wird für Ende dieser Woche erwartet. Indien wäre damit die vierte Nation der Erde, welche nach den USA, der Sowjetunion und China den Erdtrabanten erreichen würde. Mit rund 73 Millionen US-Dollar hielten sich die Bau- und Startkosten für Indien übrigens in Grenzen. Die Entwickler der weitaus teureren „Ariane“-Raketen dürften auf diese Mission mit besonderem Augenmerk blicken.

Vorerst wird das indische Landungsmodul auf dem Mond alleine sein: Denn die am 10. August gestartete Raumsonde „Luna 25“, aufgesattelt auf einer russischen „Sojus“-Rakete, stürzte kurz vor der Landung auf dem Mont ab. Ursprünglich geplant war die Navigation mit einer ESA-Kamera, die aufgrund der kriegsbedingten Sanktionen allerdings wieder abmontiert werden mußte. „Luna 25“ hatte mit dem Südpol des Mondes ein ganz spezielles Ziel. Die Sonde sollte dort vorhandenes Gefrierwasser auf seine Eignung nicht nur zum Trinkwasser, sondern auch als Treibstoff für spätere interplanetare Raumflüge untersuchen. Für 2040 plant Rußland eine bemannte Mondbasis an selbiger Stelle und möchte bis dahin seine technologische Unabhängigkeit vom Westen unter Beweis stellen. „Manche sprechen bereits vom zweiten Rennen zum Mond“, sagt Anatoly Zak, Betreiber der Website RussianSpaceWeb.com. „Daher ist es sehr wichtig für Rußland, sein Programm wiederaufzunehmen.“ Der fehlgeschlagene erste russische Flug zum Mond seit der Raumfähre „Buran“ von 1976 ist daher ein schwerer Schlag für die Verantwortlichen.

Bereits im November 2022 gelang mit dem Start der unbemannten „Artemis 1“ die erfolgreiche Rückkehr der USA in den Mondorbit. Ein bemannter Flug der NASA zum Mond ist allerdings erst für 2024 geplant, eine erneute Landung von Astronauten auf dem Mond sogar erst für 2025. Bei Entwicklungskosten von bislang 93 Milliarden US-Dollar soll im Rahmen des Artemis-Programms unter anderem die erste Raumstation außerhalb des Erdorbits errichtet werden. Die „Lunar Orbital Platform-Gateway“, so die NASA, würde nicht nur zur Erforschung des Mondes dienen, sondern ebenso als Zwischenstation für spätere bemannte Flüge zum Mars. Ein weiteres Ziel der USA scheint hingegen weniger hoch gesetzt: „Mit der Artemis-Mission wird die NASA die erste Frau und den ersten farbigen Menschen auf den Mond bringen“, verkündet die US-Weltraumbehörde stolz auf ihrer Website. „Unser Erfolg wird die Welt verändern.“