© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Lieber verschuldet als besetzt
Bedrohung durch Rußland: Um sich im Ernstfall verteidigen zu können, rüstet Polen massiv auf
Paul Leonhard

Polen fühlt sich bedroht, speziell aber die Politiker der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Bedroht von nationalistischen Russen und ihren weißrussischen Verbündeten im Osten sowie von unbelehrbaren Nazi-Deutschen im Westen, die noch immer nicht bereit sind, für die von ihnen während des Zweiten Weltkrieges in Polen angerichteten Zerstörungen Reparationen zu zahlen. Antirussische Töne sind in polnischen Regierungskreisen Alltag, antideutsche immer öfter zu hören, je näher der Wahltermin rückt, denn die PiS droht ihre Mehrheit zu verlieren. 

Bewußt wird daher vor den Parlamentswahlen am 15. Oktober die Angst vor einem Angriff russischer Truppen geschürt, egal ob es sich um reguläres Militär oder Wagner-Söldner handelt. Vor den „wirklich dramatischen Konsequenzen“ der Präsenz der Wagner-Soldaten in Weißrußland warnte Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bei einem Treffen mit Litauens Präsidenten Gitanas Nausėda. Befürchtet wird, daß die an die polnische Grenze verlegten Söldner – insgesamt halten sich in Weißrußland Schätzungen zufolge zwischen 3.000 und 5.000 Wagner-Soldaten auf – getarnt als illegale Einwanderer polnisches Territorium infiltrieren könnten.

Konkret geht es um die sogenannte Suwalki-Lücke, einen 100 Kilometer breiten Landkorridor, der als Achillesferse der Nato gilt. Denn er ist die einzige Verbindung zwischen den Nato-Staaten Polen und Litauen. Morawieckis fixe Idee ist, daß die Söldner die Eroberung dieses Korridors planen, um die baltischen Nato-Länder vom Rest Europas abzuschneiden. Zwar wäre damit der Nato-Bündnisfall eingetreten, aber der Ministerpräsident erinnerte nicht nur an die Territorialgarantien, die der Westen 1990 der Ukraine gegeben hatte, damit die ihre Atomwaffen abgibt, sondern auch an das Verhalten der Garantiemächte Frankreich und Großbritannien, als Wehrmacht und Rote Armee im September 1939 Polen in die Zange nahmen. Seit dem 24. Februar 2022 sei deutlich, daß nur „das Heldentum des Soldaten in wirksamer und moderner Ausrüstung imstande ist, die russischen imperialen Ambitionen, die russische Brutalität zu stoppen“, sagte der polnische Staatspräsident. Neben dem Ukraine-Krieg verweist Duda auf das „Wunder an der Weichsel“, also an den Sieg über Sowjetrußland in der Schlacht von Warschau 1920, der „den Expansionsdrang der Bolschewiki gestoppt und die Ausbreitung der russischen kommunistischen Revolution über Europa verhindert“ habe, so der Präsident: „Polnische Soldaten haben den Lauf der Geschichte verändert. Sie haben ganz Europa verteidigt.“ Was er verschweigt: Polnische Truppen hatten zuvor zusammen mit ausländischen Verbänden die Ukraine einschließlich Kiews sowie Weißrußland mit Minsk besetzt, bevor sie von der Roten Armee bis zur Weichsel zurückgedrängt werden konnten. Ebenfalls tabu in der Erinnerung ist der im Oktober 1920 erfolgte polnische Überfall auf Litauen und die Annexion der litauischen Hauptstadt Vilnius.

Daß Polen an seinen Sieg über die Rote Armee am 15. August mit einer großen Militärparade in Warschau erinnerte, war zwar hauptsächlich als Signal an Moskau gedacht, dürfte aber bei den seinerzeit polnischen Großmachtträumen zum Opfer gefallenen Nachbarstaaten Litauen, Weißrußland und Ukraine gemischte Gefühle ausgelöst haben. Andererseits traut man auch in Litauen den Russen jegliche unmoralische List zu. Unvergessen ist in Vilnius bis heute, daß der im Westen als Friedensbringer gefeierte Michail Gorbatschow als Reaktion auf die litauische Unabhängigkeitserklärung seine Panzer in Marsch setzte. Das baltische Land setzt auch deswegen wie Polen auf Abschreckung, verstärkt seine Truppen an der 680 Kilometer langen Grenze zu Weißrußland und hat deren Befugnisse erweitert.

Fünf Prozent des Bruttoinlands-produkts soll die Armee erhalten

Warschau hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Es will in zwei Jahren zur dominierenden Militärmacht in Europa werden. Die polnische Armee werde, so die Polen die nationalkonservative Regierung bei der Parlamentswahl bestätigen, bis 2025 „zur stärksten Landarmee Europas“, versprach Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak auf einer Wahlveranstaltung in der Stadt Wolomin. Mit mehr Panzern und Raketenwerfern als Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien zusammen, so der ehemalige Nato-Beamte Jamie Shea, der heute als Professor für Strategie und Sicherheit an der Universität Exeter in England lehrt. Dafür ist die Regierung auch bereit, sich zu verschulden. „Besser verschuldet als okkupiert“, sagte PiS-Chef Jaroslaw Kaczyński in einem Interview. Außerdem sind da ja auch noch jene offenen 1,3 Billionen Euro, die Deutschland an Polen zahlen soll. Zwar gibt es keine Wehrpflicht mehr, aber die Zahl der Soldaten hat sich seit 2015, dem Jahr, als die PiS die Wahlen gewann, um fast ein Viertel auf 164.000 erhöht. Mittelfristiges Ziel sind inklusive Heimatschutz 300.000. Drei Prozent – geplant sind künftig fünf – seines Bruttoinlandsprodukts verwendet Polen bereits für das Militär und geht bei der Aufrüstung komplett eigene Wege. Statt auf Nato-kompatible Systeme zu setzen, kauft Warschau in Asien ein, statt deutscher Leopard oder Panther wurden 980 K2-Kampfpanzer, 648 K9-Haubitzen, 48 FA50-Kampfflugzeuge und Mehrfachraketenwerfer aus Südkorea geordert. Ein Teil der Produktion soll in Polen erfolgen. Dazu kommen 366 US-Kampfpanzer vom Typ Abrams. 32 F-35-Kampfjets wurden bereits 2020 geordert. Fehlen bloß noch die Atomwaffen, aber da sind die USA sehr zögerlich, was die polnischen Forderungen betrifft.