Der Weg von Polen nach Deutschland beträgt gerade einmal 80 Meter. Seit 2004 können Fußgänger bequem über die Görlitzer Altstadtbrücke die Neiße und die Grenze passieren. Ein Weg, den im Jahr 2023 nicht nur die Bewohner der grenznahen Region oder Touristen, sondern zunehmend auch Migranten nutzen. Mehr als 43.000 unerlaubte Einreisen hat die Bundespolizei in den ersten sieben Monaten dieses Jahres insgesamt festgestellt, ein Zuwachs von über 50 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Allein im Juli verzeichnete man einer Sprecherin des Bundesinnenministeriums zufolge 10.714 Personen, die ohne gültige Papiere in die Bundesrepublik einreisten.
Besonders illegale Einreisen von Polen aus haben dramatisch zugenommen, im Vergleich zu 2022 laut Innenministerium allein hier um 168 Prozent. Einer der Hotspots dafür ist Deutschlands östlichste Stadt, Görlitz an der Neiße. Doch wer sich durch den Ort bewegt, spürt davon zunächst nichts. Touristen bummeln über die Altstadtbrücke. Von Polen nach Deutschland und umgekehrt. Keine Polizei, auch keine Migranten. Lediglich Überwachungskameras links und rechts der Brücke auf deutscher Seite lassen einen Hauch von Kontrolle erahnen. Kübel mit kleinen Palmen stehen links und rechts aufgereiht, versprühen Willkommens-Atmosphäre.
Von einem direkt daneben gelegenen Restaurant aus hat man einen guten Blick auf den Grenzübergang. Eine Stunde. Zwei Stunden. Ankommende Migranten: null. Auch in der Görlitzer Innenstadt ist von mutmaßlichen Asylbewerbern nichts zu sehen. Wie paßt das mit den sprunghaft angestiegenen Zahlen zusammen? Nachfrage bei den Anwohnern. „Die kommen vor allem nachts, so zwischen 23 Uhr und 5 Uhr morgens“ , sagt eine Frau der JUNGEN FREIHEIT. Sie wohnt direkt hinter der Grenze auf deutscher Seite. Von den Fenstern ihrer Wohnung aus kann man die Brücke gut sehen. Immer wieder, so berichtet sie, würden dann einzelne Gruppen von Migranten die Altstadtbrücke zum illegalen Grenzübertritt nutzen. „Manchmal werden sie von einer Polizeistreife aufgegriffen und wieder zurück auf die polnische Seite geschickt. Aber das bringt nicht viel, weil sie es ja sofort wieder versuchen“, meint die Frau.
Ähnliches erzählt auch einer der Zigarettenverkäufer auf polnischer Seite. „Die kommen hierher zurück, kaufen sich bei mir manchmal noch ein paar Zigaretten und versuchen es dann eben erneut.“ Die illegal Einreisenden kämen zumeist aus Syrien oder Afghanistan, aber auch Türken, Iraner oder Afrikaner aus Somalia und dem Sudan seien bei ihm schon im Laden aufgekreuzt. „Deutschland gibt am meisten Geld für Migranten aus, deshalb wollen alle dahin“, ist der Händler überzeugt. Wenn es dunkel werde, würden sich immer wieder Leute über die Brücke aufmachen. „Da ist niemand, der sie stoppt, es gibt ja keine Grenzkontrollen. Ich sehe das alles und wundere mich nur, warum Deutschland nichts tut.“
Wenn die Bundespolizisten bei ihren nur stichprobenartigen Kontrollen Illegale aufgreifen und zurückschicken, belegen sie diese zunächst mit einem Einreiseverbot. Kommt es dann zu einem erneuten Grenzübertritt, erfolgt eine Strafanzeige. Der Zigarettenverkäufer hat von dieser Verfahrensweise gehört. Und muß schmunzeln. „Glaubst du, daß es jemanden, der Tausende von Kilometern hinter sich gebracht hat, interessiert, ob er in Deutschland eine Strafanzeige bekommt?“ Zudem reicht schon die bloße Äußerung des Wunsches nach Asyl aus, um eine Zurückweisung zu vermeiden. Liegt kein Eintrag über die Einreise in einen anderen EU-Staat vor, muß der Asylantrag in Deutschland geprüft werden.
Was sich nachts abseits der Öffentlichkeit auf der Görlitzer Altstadtbrücke abspielt, läuft nur 500 Meter weiter südlich noch unauffälliger. Hier befindet sich die „Brücke der Freundschaft“, über die der Autoverkehr verläuft. Und die Route der Schlepperbanden, die Migranten zumeist in Transportern und Kleinbussen zusammenpferchen, um sie über die Grenze nach Deutschland zu bringen. Auch hier sieht auf den ersten Blick nichts nach Migrationskrise aus. Keine Einwanderer, keine Polizei. Doch der Eindruck täuscht.
Mit Geld vom Staat die Schlepper bezahlen
Täglich greift die Polizei bei ihren sporadischen Kontrollen illegal Eingereiste auf. Und die erfaßten Zahlen dürften nur einen Bruchteil dessen ausmachen, was sich außerhalb der Kontrollen abspielt. Es ist eine schleichende, für die Öffentlichkeit oftmals unsichtbare Migration. Eine, die sich hinter den Wänden der zahlreichen Transporter vollzieht, die die „Brücke der Freundschaft“ und andere Brücken von Polen nach Deutschland befahren. Eine, die den Schutz der Nacht nutzt. Und die aufgrund mangelhafter Kontrollen das Auto immer stärker als bevorzugtes Mittel zur illegalen Einreise entdeckt hat.
Erst hundert Kilometer weiter westlich wird das Ausmaß, werden die Hintergründe sichtbarer. In der sächsischen Landeshauptstadt Dresden kommt die JUNGE FREIHEIT mit Jamal ins Gespräch, einem Syrer. Der 23jährige ist erst seit einigen Monaten in Deutschland. Interessant ist vor allem, was er über seine Route nach Deutschland erzählt. Gemeinsam mit Landsleuten ist er zunächst per Flugzeug über Moskau und Minsk an die weißrussisch-polnische Grenze gereist, von dort zu Fuß über die grüne Grenze weiter durch Polen. In Syrien habe sich herumgesprochen, daß es momentan sehr preisgünstig und einfach sei, über Rußland und Weißrußland in die EU zu gelangen.
„Schwierig wurde es erst an der Grenze zu Polen“, schildert er. Der Grenzübergang nach Deutschland sei „kein Problem“ gewesen. Ob auch er per Transporter ins Land geschmuggelt wurde, möchte er nicht verraten, bestätigt aber: „Wir sind im Auto nach Deutschland gekommen.“
Ähnliches erzählen zwei weitere Syrer, mit denen die JF mangels Sprachkenntnissen nur per Übersetzungsprogramm kommunizieren konnte. Sie bestätigen: „Wir sind über die Route Rußland und Weißrußland in die EU gekommen.“ In Damaskus und anderen syrischen Städten würden Schleuserbanden „für diesen Weg Werbung“ betreiben. Verbunden mit dem Ziel Deutschland. Sie selbst seien von Istanbul nach Moskau geflogen, von dort über Minsk weiter Richtung polnischer Grenze gereist.
Doch es gibt noch weitere bevorzugte Routen. Eine davon führt von der Türkei aus über Bulgarien, Rumänien, Ungarn und die Slowakei nach Tschechien. Eine Route, die der Afghane Amir eingeschlagen hat, der vom Schleuser-Drehkreuz Istanbul aus gemeinsam mit elf weiteren Migranten aus Syrien, Afghanistan und der Türkei für eine Summe von 6.000 US-Dollar per Transporter nach Prag gebracht worden war. Von dort aus sei er dann über Bad Schandau nach Deutschland gekommen. Nur einen Bruchteil der dafür fälligen Summe habe er bisher bezahlen können. Bemerkenswert dabei: Mit den Schleppern hat er einen Deal. „Sie sagten mir, ich könnte den Rest zahlen, wenn ich in Deutschland bin. Da würde ich dann genug Geld vom Staat erhalten.“ Amir dürfte mit dieser Zahlungsvereinbarung nicht der einzige sein.
Was sich an Deutschlands Grenzen zu Österreich und der Schweiz abspielt, lesen Sie nächste Woche in Teil 2 dieser Reportage