Herr Binkert, kommt die „Wagenknecht-Partei“?
Hermann Binkert: Tja, das ist „die Frage, über die seit Monaten die ganze Republik rätselt“, wie der Cicero schreibt. Doch die sollten Sie besser einem Propheten stellen.
Sind Meinungsforscher nicht die Propheten von heute?
Binkert: Nein, was wir tun, ist, die derzeit herrschenden Stimmungen zu ermitteln. Daraus auf das Morgen zu schließen ist rasch Spekulation.
Der bekannte österreichische Demoskop Wolfgang Bachmayer meint allerdings: „Als Meinungsforscher hat man den ‘politischen Blick’ und kann bestimmte Strömungen vorhersehen.“
Binkert: Das klingt mir zu absolut. Auch Politiker handeln nicht immer logisch und vernunftorientiert. Natürlich gehe ich aber inzwischen davon aus, daß es eine Wagenknecht-Partei geben wird. Und diese wird bei der Europawahl mit hoher Wahrscheinlichkeit ein zweistelliges Ergebnis erzielen.
Konkret haben Sie in einer Umfrage vom 31. Juli im Auftrag der „Bild“-Zeitung 15 Prozent ermittelt.
Binkert: Ja, derzeit. Aber auch das spiegelt die Stimmung zum Zeitpunkt der Erhebung und ist keine Prognose für den tatsächlichen Wahltag am 9. Juni des nächsten Jahres.
Eine Liste Wagenknecht wäre eine Sensation und für einige Zeit „das“ Thema in der politischen Debatte. Wird das der Partei nicht einen weiteren Popularitätsschub verpassen, so daß man wohl eher mit einem Ergebnis über 15 Prozent rechnen müßte?
Binkert: Das kann sein, aber genauso ist das Gegenteil möglich. Wir wissen ja wenig über Wagenknechts Mitstreiter und über weitere Mitbewerber aus anderen Parteien.
So viel scheint festzustehen: „Wagenknecht sammelt Kandidaten für die Europawahl“, das bestätigte, so der Journalist Mathias Brodkorb, die Politologin und Publizistin Ulrike Guérot, die ihre Unterstützung des Projekts bereits zugesagt habe.
Binkert: Eben, denn Frau Wagenknecht wird ja nicht alleine antreten. Die Frage ist, schafft sie es, eine schlagkräftige Organisation aufzubauen? Gelingt es ihr, andere bekannte Namen zu gewinnen? Und werden diese weitere Wähler anziehen oder vielleicht eher abstoßen?
Sie haben ermittelt, daß zum Beispiel Boris Palmer fünf Prozent der Wählerstimmen erhalten würde.
Binkert: Aber als Liste Palmer – nicht in Zusammenhang mit einer Wagenknecht-Partei. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel dafür, daß scheinbare Kleinigkeiten die Dinge ändern können: Für Thüringen, wo im Herbst 2024 Wahlen sind, gab es bei einer weiteren unserer Umfragen, für die Funke-Medien, sogar 25 Prozent Zustimmung für eine Wagenknecht-Partei. Dabei haben sich die Befragten aber wahrscheinlich vorgestellt, Wagenknecht würde die Liste ihrer Partei in der Landtagswahl anführen. Das aber wäre vermutlich nicht der Fall – und schon das könnte das Ergebnis verändern. All das sind also Momentaufnahmen und wir wissen nicht, welche Dynamiken und Ereignisse sich noch ergeben, so daß es unmöglich ist vorauszusagen, wie eine Liste Wagenknecht bei der nächsten Landtags- oder bundesweiten Wahl – also der Europawahl am 9. Juni – abschneiden wird. Und ebenso kann sich Ihre These, ihr Antreten würde bereits für weitere Prozente sorgen, ins Gegenteil verkehren.
Inwiefern?
Binkert: Erinnern Sie sich noch an den Hype um SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz – und wie sich der Trend bereits innerhalb weniger Wochen drehte? Wagenknechts neues Buch „Die Selbstgerechten“ besteht aus zwei Teilen – einer Analyse der Lage sowie Lösungsvorschlägen. Dem ersten Teil werden sicher weit mehr Menschen zustimmen als dem zweiten. Was ich damit meine, ist, daß eine Liste Wagenknecht derzeit vor allem eine Projektionsfläche ist. Sollte sie sich gründen, müßte sie sich aber auf gewisse Positionen und ein bestimmtes Personal festlegen und Partei und Kandidaten würden auf Herz und Nieren geprüft – was ebenso zu gewissen Enttäuschungen und zum Absinken in der Wählergunst führen könnte. Sie sehen also, wie viel da im Fluß bleiben wird.
Ergeben sich aus Ihrer Umfrage keine Hinweise darauf, welche Positionen die Partei vertreten würde oder wer zum Beispiel ihre Wähler wären?
Binkert: Eine Wagenknecht-Partei könnte dazu führen, daß die Linke jeden Zweiten ihrer Wähler und die AfD bis zu einem Drittel ihrer Wähler verliert. Da die AfD aber mehr Wähler hat als die Linke, würde demnach wohl von ihr der größte Wählerzustrom kommen. Aber auch die anderen Parteien – mit Ausnahme von Bündnis 90/Die Grünen – könnten schmerzliche Stimmenverluste in Richtung Wagenknecht erleiden. Die Partei wäre also mehr als ein Sammelbecken ehemaliger Linken- und AfD-Wähler.
Wäre sie tatsächlich das Ende der Linken, wie allgemein vermutet wird?
Binkert: Laut unserer Umfrage, ja. Wohl noch nicht bei der Europawahl, da dort die Fünf-Prozent-Hürde nicht gilt, aber bei der Bundestagswahl.
Nicht in den Bundestag einzuziehen bedeutet aber doch nicht automatisch das Ende einer Partei.
Binkert: Stimmt, und natürlich ist auch das nur Spekulation, aber laut unserer Umfrage käme die Linke bei Antritt einer Liste Wagenknecht statt auf fünf nur noch auf drei Prozent. Ob eine Linke ohne Wagenknecht neue Wähler von Grünen und SPD gewinnen kann, muß sich erst noch zeigen.
Wenn die relativ meisten Wähler von der AfD kämen, wäre die Wagenknecht-Formation dann noch eine linke Partei?
Binkert: Vergessen Sie nicht, daß die AfD auch Wähler hat, die bisher links der Mitte angesiedelt waren und nur deshalb als „rechts“ gelten, weil Positionen, die man vormals auch in der Mitte oder Mitte-Links vertrat, nun als rechts deklariert werden. Vermutlich löst sich eine Liste Wagenknecht aber nicht mehr in unser klassisches Links-Rechts-Schema einpassen, so wie zum Teil ja auch schon die AfD.
Deren derzeitiger Höhenflug wird mit einer wachsenden Zahl an Protestwählern erklärt. Wenn das stimmt und vor allem diese Wähler von der AfD zur Wagenknecht-Partei wechseln, dann haben wir es nicht – wie etwa bei Gründung der Grünen – mit Wählern zu tun, die einen Wandel fordern, sondern im Gegenteil mit solchen, die gegen den Wandel, den die etablierten Parteien vollziehen, protestieren wollen. Folglich sind diese Wähler doch weder Rechte noch Linke, sondern Vertreter des bisherigen Status quo, also der Mitte. Was erneut die Frage aufwirft, ob es sich bei einer Liste Wagenknecht wirklich um eine linke Partei handeln würde?
Binkert: Ich teile nicht die Meinung, daß die AfD nur eine Protestpartei ist. Viele Befragte, die sie wählen wollen, sagen uns, daß sie von ihren Positionen überzeugt sind. Parteien sollen ja an der Willensbildung der Bevölkerung mitwirken. Sie verändern so natürlich einerseits auch Haltungen in der Bevölkerung – andererseits verändern Wähler aber auch Parteien, die natürlich auch darauf achten, wie ihre Wähler „ticken“. Wir wissen nicht, ob die Wähler die Partei oder die Partei die Wähler mehr verändern wird beziehungsweise wie genau die potentiellen Wagenknecht-Wähler überhaupt denken.
Gibt es diesbezüglich keine Erhebungen?
Binkert: Das ist bei einer noch gar nicht existierenden Partei schwierig. Selbst simple Fragen wie zum Beispiel, ob sie mehrheitlich für oder gegen längere Laufzeit der Atomkraftwerke wären, könnte ich derzeit nicht sicher beantworten. Es herrscht also noch viel Fragebedarf. Daher noch mal zur Erinnerung, Sie fragen mich nach der künftigen Entwicklung einer Partei, die es noch gar nicht gibt und von der man im Moment noch wenig weiß.
Die meisten Beobachter sind sich jedoch einig, lange kann Wagenknecht nicht mehr zögern. Denn die Partei müßte bis Beginn des Europawahlkampfs im Frühling aufgebaut sein, um diesen erfolgreich bestreiten zu können. Aber warum eigentlich – ist die Europawahl für die Bundespolitik nicht nahezu irrelevant?
Binkert: Nein, die Bedeutung der Europawahl wird unterschätzt. Nicht zuletzt ist sie auch ein idealer Testlauf für neue Parteien. Denn bei Europawahlen sind die Bürger erfahrungsgemäß experimentierfreudiger. Gerade weil viele das Gefühl haben, daß die Wahl relativ wenig Wirkung auf ihr Leben hat, sind sie hier am ehesten bereit, einen Außenseiter oder Newcomer zu wählen. Gleichzeitig bietet eine Europawahl im Gegensatz zu einer Landtagswahl eine nationale Bühne, um auf sich aufmerksam zu machen. So kann man zum Beispiel die Überlegung anstellen, ob die AfD nicht bereits eine Legislaturperiode früher in den Bundestag eingezogen wäre, wäre die damalige Abfolge – 2013 Bundestagswahl, 2014 Europawahl – umgedreht gewesen. Denn 2013 fehlten der AfD mit 4,7 Prozent nur 0,3 Prozent für den Einzug – und es ist nicht unwahrscheinlich, daß durch einen Achtungserfolg bei einer Europawahl vor der Bundestagswahl mehr Wähler die damals noch ganz neue Partei, von der nicht klar war, ob sie sich überhaupt würde etablieren können, als ernstzunehmende Alternative bei der Bundestagswahl in Erwägung gezogen hätten.
Auch wenn Sie wohl wieder darauf verweisen werden, daß alles Spekulation ist ... Was könnte eine Wagenknecht-Partei langfristig für die AfD bedeuten?
Binkert: Die Lücke, die eine Wagenknecht-Partei mutmaßlich besetzt, wird nicht so groß zu sein, daß es nicht auch noch genug Platz für die AfD gäbe – die ja derzeit jeden fünften Wähler gewinnen würde. Eine Wagenknecht-Partei hat Einfluß auf sämtliche Parteien, die wahrscheinlich ihre Inhalte – auch in Abgrenzung zu dieser neuen Partei – schärfen würden. Auch das kann interessant werden.
Allerdings hat sich die AfD jüngst gerühmt, mit 23 Prozent in einer Europawahlumfrage stärkste Partei in Deutschland zu sein – vorausgesetzt man betrachtet CDU und CSU getrennt. Damit wäre es beim Antritt einer Liste Wagenknecht aber doch wohl vorbei?
Binkert: CDU und CSU sind zwei Parteien, aber sie konkurrieren nicht miteinander und bilden im Bundestag eine Fraktion. Die Union könnte also zum Beispiel den Parlamentspräsidenten stellen, auch wenn die AfD mehr Stimmen als die CDU gewinnt. Was die AfD bereits erreicht hat: Sie ist die stärkste Kraft bei den Wählern, die sich rechts der Mitte verorten. Eine Partei ist nur dann attraktiv, wenn sie geschlossen auftritt. Das scheint der AfD heute besser als früher zu gelingen. Es ist jedoch weiter eine Tatsache, daß die große Mehrheit der deutschen Wähler keine Partei mit radikalem Kurs will. Es ist wichtig, daß Parteien mit Klarheit für ihre Überzeugungen werben, aber wenn sie ihr Potential ausschöpfen möchten, müssen sie offen für „Gemäßigte“, anschlußfähig in die Mitte hin sein.
Neben der Frage, wie viele Wähler eine Partei im Moment wählen würden, spielt bei Umfragen auch die sogenannte Potentialanalyse eine Rolle. Diese besagt, wie viele Wähler sich grundsätzlich vorstellen könnten, einer Partei ihre Stimme zu geben. Wie groß ist dieses Potential bei der Wagenknecht-Partei?
Binkert: Man muß vorsichtig mit Potentialdaten sein, insbesondere wenn es um Parteien geht, die es noch gar nicht gibt. Viele Bürger können sich grundsätzlich vorstellen, mehrere Parteien zu wählen. Auch solche, denen sie tatsächlich niemals ihre Stimme geben, weil sie andere Parteien vorziehen. So erzielen die Freien Wähler etwa ein Potential bis zu 25 Prozent, während sie bei der letzten Bundestagswahl 2021 mit nur 2,4 Prozent nicht einmal in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde gekommen sind.
„Bild“-Online titelte am Montag mit einer neuen Umfrage, die ebenfalls Ihr Haus für das Blatt durchgeführt hat: „Umfrage-Desaster für die Ampel! Zwei Drittel der Deutschen wollen eine neue Regierung.“ Und Sie zitiert „Bild“ mit den Worten: „Anzeichen einer Kanzlerdämmerung“
Binkert: Ja, das ist das, worauf die von uns am 17./18. August erhobenen Daten hinweisen: Siebzig Prozent der Befragten sind mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden und finden, Deutschland würde ein Regierungswechsel guttun. Zwei Drittel der Befragten bewerten konkret die Arbeit des Kanzlers negativ.
Was folgt daraus?
Binkert: Das müßte ich eigentlich Sie fragen, denn die Stimmung zu ermitteln ist Sache der Demoskopie, sie zu kommentieren des Journalismus.
Warum schneiden Regierung und Kanzler Scholz so schlecht ab?
Binkert: Weil die Ampel zerstritten ist und das offensichtlich auch als mangelndes Führungsvermögen verstanden wird.
Was meinen Sie mit „Kanzlerdämmerung“? Daß Kanzler Scholz bei der Bundestagswahl 2025 nicht erneut der Kandidat der SPD sein wird?
Binkert: Nein, denn gut zwei Jahre sind, zumal in der Politik, eine sehr lange Zeit. Erinnern Sie sich nur daran, daß es selbst wenige Monate vor der Wahl 2021 kaum jemand für möglich hielt, daß Olaf Scholz am Ende die Nase vorn haben würde. Mit „Kanzlerdämmerung“ wollte ich ausdrücken, daß das Negativimage der Ampel-Koalition voll auf den Kanzler durchschlägt. Er schafft es nicht – anders als zum Beispiel seine Vorgängerin –, sich vom Tief der Koalition, die er führt, zu entkoppeln.
Hermann Binkert, ist Geschäftsführer des vom ihm 2009 in Erfurt gegründeten Markt- und Sozialforschungsinstituts Insa-Consulere. Zuvor war der ehemalige CDU-Politiker Staatssekretär und persönlicher Referent der thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und Dieter Althaus. Geboren wurde der Jurist 1964 im badischen Waldshut-Tiengen.