An der Oberfläche bleibt, wer das die Linke ruinierende Drama als eines zwischen Wagenknecht und Wissler versteht, oder zwischen Schirdewan und Bartsch. Wer die üble Lage dieser Partei begreifen will, derentwillen sich nun niemand mehr von politischem Gewicht für die Spitzenämter in Partei- und Fraktion anbietet, der muß auf wirklich viel mehr achten.
Tiefster Grund dieser Krise scheint zu sein, daß der Linken die Arbeiterklasse als jenes sie erdende Kollektivsubjekt abhanden gekommen ist, dessen authentische Vertretung linke Parteien jahrzehntelang als ihr Alleinstellungsmerkmal behaupteten. In Westdeutschland machten sozialdemokratische Bildungsreformen die SPD zu einer Partei fortschrittlicher Akademiker, aus der inzwischen allzu oft eine Partei von „abgebrochenen Studenten“ mit politischen Karrierewünschen wurde. Linke SPD-Abspaltungen wandelten sich ohnehin zu Sektierergruppen. Seit manche davon, getragen von der sich quer über die ganze Gesellschaft ausbreitenden Umweltbewegung, die Partei der Grünen gründeten – der inzwischen höchst erfolgreichen politischen Bewegung akademischer Mittelschichten und verzogener Jungaktivisten – spaltete sich die linke Wählerschaft. Hinzu kam als Wiedervereinigungsimport die zur PDS gewandelte SED. Das verdreifachte linke Politikangebote. In der DDR hatte man zwar symbolpolitisch so getan, als läge das Sagen bei der aktiven Arbeiterschaft – also nicht bei deren ganz unabwählbarer Funktionärsschicht –, doch seit den freien Wahlen von 1990 belegen deren Ergebnisse, daß Ostdeutschlands Arbeiterschaft zunächst zur CDU abwanderte und sich später zur AfD weiterbewegte. Im Gegenzug – auch im Gang ostdeutscher Konsolidierung – wurde die PDS von einer Kümmererpartei der im neuen System politisch beschäftigungslos gewordenen DDR-Funktionsträger zu einer weiteren Akademiker- und Utopistenpartei. In einer solchen aber tut man sich schwer mit einer wählerattraktiven Mischung von Visionen und Pragmatismus.
Außerdem lebte die PDS bzw. Linke lange, sehr gut und anziehungsstark auch im Westen davon, daß sie ostdeutschen Protest gegen eine Überstülpung zunächst des westdeutschen Systems und sodann des neoliberalen Globalismus lautstark zum Ausdruck brachte. Doch seit dem Aufkommen des Pegida/AfD-Komplexes 2014, dem – begünstigt durch falsche Reaktionen – ein großer politischer Aufstieg der AfD folgte, ist die Linke diese besondere Protestrolle los. Gegen das bundesdeutsche System und den globalen Kapitalismus tritt nämlich die AfD umso anziehungskräftiger auf, als sie sich auch noch klarer als andere Parteien gegen die von der Linken ausgeübte kulturelle Hegemonie stellt. Da half es auch nicht, daß man den oppositionellen Systemprotest der AfD von der Mitte bis ganz links als Verfassungsfeindlichkeit und Neonationalismus ausflaggte. Ostdeutschlands Rechte ließ sich davon nicht stärker abschrecken als Westdeutschlands Linke einst vom Radikalenerlaß.
Bald schon zeigten sich Wählerwanderungen von der Linken zur AfD. Versuche einer realistischen Analyse führten Linke dann rasch an die Grenzen ihrer Tabuzonen. Wirkt sich denn die – gerade von Elitengruppen befürwortete – selbstermächtigte Zuwanderung nach Deutschland nicht zum Nachteil gerade der deutschen Unterschichten aus, die nun mit Migranten um bezahlbaren Wohnraum und um bisherige alltagspraktische Selbstverständlichkeiten zu konkurrieren haben? Und darf die deutsche Unterschicht wohl keine legitimen Eigeninteressen im Verteilungskampf um jene Milliarden von Euro durchsetzen, die Deutschlands Sozialstaat auf unabsehbare Zeit jährlich für Migranten auszugeben hat? Doch weil in solchen Zusammenhängen als rechtsradikal gilt, was unter anderen Umständen als links durchginge, kann die Linke die hier nötigen Debatten nicht unbeschadet in den eigenen Reihen führen. Also vermag sie auch keine Wähler mehr an sich binden, die ihre Interessen jetzt von der AfD vertreten empfinden.
Ferner suchte die Linke immer schon nach revolutionären Ersatzsubjekten für jene Arbeiterschaft, die sich ihr quer über Europa immer weniger als agitierbare Schwungmasse zur Verfügung stellte. In Westdeutschland imaginierte man die linke Studentenschaft als revolutionäres Subjekt, während in Bundesdeutschland die Linke sich identitätspolitisch an die Trägergruppen von Feminismus und LGBTQ+ heranmacht, umfänglich auch an die Woken, hoffnungsvoll außerdem an solche Zuwanderer, dank welcher Deutschland endlich „weniger weiß“ und weniger von dem würde, womit linke Intellektuelle und Renommiergrüne nach eigenem Eingeständnis ohnehin nichts anfangen können: nämlich deutsch. Doch aus vielen identitätspolitisch angesprochenen Teilgruppen wird schwerlich eine beisammenbleibende Mehrheit.
Derweil zerbrechen die Lebenslügen von Pazifismus und friedenssichernder Russophilie; erodiert Deutschlands Infrastruktur ebenso wie die Stärke der deutschen Wirtschaft; und erweist sich, daß staatliche Erziehungs-, Kontroll- und Bestrafungswünsche einen großen Teil der Bürgerschaft nur noch aufsässiger machen. Das treibt ihn dann nicht nur von der Union, sondern auch von der Linken her der AfD zu. Und diese Herausforderungen setzen der Linken umso mehr zu, als linker Journalismus inzwischen überwiegend grüner Journalismus ist, also weniger den Restbeständen der klassischen Linken beispringt als vielmehr jenen modischen Lebensstil-Linken, die sich im Konfliktfall – etwa beim individuellen Flugreiseverhalten – ohnehin auf die Seite jener Bourgeoisie zu schlagen pflegen, der sie mitsamt ihren grünen Freunden ja meist entstammen.
Wer das alles vor Augen hat, ist nicht verwundert, wenn die Linke – nicht wie die AfD durch Außendruck zusammengehalten – sich nun zerstreitet, Führungsleute verliert, substantiell ratlos ist. Trotzdem nimmt sie sich weiterhin wichtig, präsentiert sich inhaltlich großartig, spielt sich als respektable moralische Instanz auf. Wie Aristokraten mit großer Geschichte pflegen Linke heute ihren Habitus, obwohl die Substanz längst abhanden kam.
Prof. Dr. Werner J. Patzelt, ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politische Systeme an der Technischen Universität Dresden.