Es ist ein Albtraum für jeden Mediziner: Ein aus einer Bagatellverletzung stammender Keim erweist sich gegen alle gängigen Antibiotika als resistent; Reserveantibiotika schlagen nicht an und der Patient, welcher den Keim aus einem Asienurlaub mitbrachte, verstirbt final an einer Blutvergiftung. Solche Fälle werden auch in Deutschland vermehrt beobachtet. Laut Analysen des Teams um Christopher Murray (University of Washington/Seattle) starben 2019 weltweit mehr als 1,2 Millionen Menschen unmittelbar und knapp fünf Millionen mittelbar an einer Infektion mit antibiotikaresistenten Erregern – mehr als an HIV und Malaria zusammen.
„Frühere Schätzungen gingen von zehn Millionen jährlichen Todesfällen aufgrund von Antibiotikaresistenzen etwa ab dem Jahr 2050 aus, aber wir wissen jetzt mit Sicherheit, daß wir dieser Zahl schon viel näher sind, als wir dachten“, so Murray im Medizinjournal The Lancet (399/22). Von antimikrobieller Resistenz spricht man, wenn Bakterien, Pilze und Parasiten gegen die Medikamente resistent werden, die normalerweise zur Behandlung der von ihnen verursachten Infektionen eingesetzt werden. Die Kontrolle von Infektionen ist überlebenswichtig – von Operationen bis zu Organtransplantationen oder Krebstherapien.
Pharmabranche forscht viel zu wenig an neuartigen Antibiotika
Im Mittelpunkt bei Murray standen 33 Erreger und Infektionsarten wie Blutvergiftungen, Lungenentzündungen oder auch Wund- und Harnwegsinfektionen. Mehr als die Hälfte der Todesfälle verursachten Staphylococcus aureus, Escherichia coli, Streptococcus pneumoniae, Klebsiella pneumoniae und Pseudomonas aeruginosa. Die Sterblichkeitsrate war in Schwarzafrika mit 230 Toten je 100.000 Einwohnern am höchsten und in Westeuropa und Nordamerika mit durchschnittlich 52 Toten am niedrigsten. In Deutschland waren resistente S. aureus- und E. coli-Bakterien für die meisten der 21.000 Todesfälle ursächlich.
EU-weit sind es laut der Gesundheitsbehörde ECDC jährlich mehr als 35.000 Menschen. Brüssel hat daher im Juni seinen 2017 erstmals vorgestellten „Aktionsplan“ gegen Antimikrobielle Resistenzen (AMR) erweitert. Dazu sollen unter anderem 13 neue Forschungsprojekte mit 32,5 Millionen
Euro gefördert werden. Michael Cook und Gerard Wright (McMaster University/Ontario) warnten in Science Translational Medicine sogar vor einem drohenden „postanbiotischen Zeitalter“. Immer mehr Infektionen, die früher routinemäßig kuriert wurden, ließen sich dann nicht mehr behandeln. Gleichzeitig forsche die Pharmabranche kaum noch an neuen Antibiotika. In den 1940er bis in die 1980er Jahre brachten Pharmafirmen viele neue, gut wirksame Antibiotika auf den Markt. Davon profitierten zahllose Menschen.
Die Rate, mit der neue Wirkstoffe jetzt auf den Markt kämen, sei inzwischen auf den niedrigsten Punkt seit 80 Jahren gesunken. „In der Ära vor den Antibiotika gingen mehr als die Hälfte der Todesfälle auf das Konto von Infektionen“, warnen Cook und Wright. Die neuen Arzneien hätten die infektionsbedingte Sterblichkeit drastisch gesenkt und die Lebenserwartung des Menschen erhöht. Doch die Pharmaindustrie hat sich aus ökonomischen Gründen zurückgezogen. Kommt ein neuartiges wirksames Antibiotikum auf den Markt, wird es nur in Notfällen eingesetzt; es verbleibt als Reserve im Panzerschrank der Krankenhaus-Apotheken. Die Ärzte können somit keine Erfahrungen mit den neuen Substanzen sammeln.
Die Entwicklung neuer Antibiotika dauert im Schnitt zehn bis zwölf Jahre. Die Kosten liegen bei ein bis zwei Milliarden Euro. Gleichzeitig ist der Aufwand für die Marktzulassung hoch und äußerst komplex – nur wenige Konzerne forschen deshalb noch an neuen Substanzen. Viele der in den USA angesiedelten Biotech-Firmen, die neue Substanzen erfolgreich durch die Zulassungsverfahren brachten, wurden insolvent. Angesichts der großen Entwicklungsrisiken werden staatlicherseits finanzielle Anreize geschaffen. In Großbritannien sollen entwickelnde Firmen unabhängig von den Verkaufszahlen mit einer Prämie unterstützt werden, in den USA werden ähnliche Ansätze vorbereitet.
Die Entwicklung von Resistenzen ist dem Milliarden Jahre alten Wettkampf der Mikroorganismen untereinander geschuldet, welche zum Zwecke des Überlebens zahllose Stoffe entwickeln, um sich gegenseitig in Schach zu halten. Dagegen wiederum entwickeln die Keime auch immer wieder Abwehrmechanismen, um sich zu schützen – also Resistenzen. Dies ist daher ein natürliches Phänomen, welches umso häufiger auftritt, je mehr Antibiotika verabreicht werden – in Krankenhäusern, dem ambulanten Bereich und in der Tiermedizin.
In Europa gibt es ein erhebliches Nord-Süd-Gefälle bezüglich der Resistenzlage. Griechenland, Portugal, die Türkei und Süditalien weisen die höchsten Raten auf, die Nordeuropäer die geringsten; Deutschland befindet sich im Mittelfeld. Dies korreliert mit dem Antibiotika-Verbrauch, der in Südeuropa viel höher ist. Die weltweit höchsten Resistenzraten finden sich im Nahen Osten und Indien. Dies ist dem extrem hohen, ungezielten Antibiotikaverbrauch sowie mangelnder Hygiene geschuldet. Weltweit werden Konzepte zur Reduktion des Antibiotika-Einsatzes auf das therapeutisch notwendige Minimum entwickelt (Antibiotic Stewardship). Dies ist ein mühseliger Prozeß, der langsam zu greifen scheint.
Ausufernde Mangelwirtschaft bei wichtigen Arzneimitteln
Was zu tun ist, beschrieb der Epidemiologe Ramanan Laxminarayan (One Heath Trust) in The Lancet: „Die staatlichen Ausgaben müssen darauf ausgerichtet werden, Infektionen von vornherein zu verhindern. Es ist sicherzustellen, daß vorhandene Antibiotika angemessen und vernünftig eingesetzt werden, und neue Antibiotika auf den Markt zu bringen.“ Daher wäre Karl Lauterbach gut beraten, die ausufernde Mangelwirtschaft bei der Bereitstellung von Arzneimitteln auch bei den Antibiotika zu beenden.
Schließlich erhielt der SPD-Politiker 2022 – stellvertretend für die G7-Gesundheitsminister – den „Global Sepsis Award“ der Global Sepsis Alliance (GSA). Dies verband der Charité-Mediziner und GSA-Mitgründer Konrad Reinhart mit der Bitte, „auf höchster politischer Ebene die Sichtbarkeit für diese unterschätzte Erkrankung“ zu unterstützen. Die bakterielle Sepsis („Blutvergiftung“) kommt häufiger vor als Herzinfarkt und Schlaganfall oder Brust-, Prostata- und Darmkrebs zusammen. Die Sepsis läßt sich mit den richtigen Antibiotika gut behandeln – vorausgesetzt, die Erkrankung wird früh genug erkannt und die entscheidenden Antibiotika sind vorhanden.
Global burden of bacterial antimicrobial resistance: