© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/23 / 18. August 2023

Der Unterdrückung vorbeugen
Der christliche US-Journalist Rod Dreher ruft dazu auf, Gemeinschaften zu bilden und Überliefertes weiterzugeben, um der drohenden „Tyrannei der Wokeness“ zu widerstehen
Hermann Rössler

Bildet Banden!“, heißt ein feministischer Kampfruf. „Alle Christen sollten Zellen bilden, um den aktiven Widerstand einzuüben“, so postuliert es Rod Dreher in seinem in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen Buch „Lebt nicht mit der Lüge!“ Noch so ein revolutionärer Fantast, fragt sich der konservative Leser. Doch der Leser kann getrost sein. Der US-Journalist und nun zum zweiten Mal Bestseller-Autor will nicht dazu aufrufen, eine neue politische Idee zu verwirklichen, sondern die christenfeindlichen und kulturfeindlichen Realitäten anzuerkennen und überlebensnotwendig zu handeln. Nicht mit der Lüge leben, das heißt nach Dreher, sich nicht einer dystopischen Wirklichkeitsverdrehung anzupassen aus Bequemlichkeit, Verwirrung oder Schwäche, sondern für eine Wirklichkeit einzustehen, die unabhängig von modernen Propagandamechanismen besteht. Den Titel hat der 56jährige Familienvater dem russischen Dissidenten Alexander Solschenizyn entliehen, der diesen für sein Schreiben am Tag seiner letzten Verhaftung, am 12. Februar 1974, gewählt hatte. 

Dreher schreibt von einem US-amerikanischen Standpunkt aus und setzt die Verhältnisse in Übersee voraus. Nichtsdestotrotz adressiert er die gesamte westliche Welt. Der vom Methodisten zum römischen Katholiken und schließlich zum russischen Orthodoxen konvertierte Dreher richtet sich an Christen aller Konfessionen, an Konservative und an solche, die aus anderen Gründen vom Meinungs-Mainstream abweichen.

Im ersten Teil seines Buchs zeichnet er ein ernüchterndes und düsteres Bild der westlichen Gesellschaften. „Überwachungskapitalismus“, „Tyrannei der Wokeness“, Konsumdenken, Degeneration und Sittenverfall. Wir leben in „prätotalitären“ Regimen, so heißt seine These. Eine Art sanfter Totalitarismus habe sich still und heimlich unterm Deckmantel „westlicher Werte“ in unsere Kirchen, Theater, Universitäten, Schulen und schließlich Ehe- und Kinderzimmer geschlichen. Dessen bevorzugte Mittel: Angst, Ausgrenzung, Verleumdung, Isolation. Das Wesen jedes Totalitarismus sei die Inanspruchnahme des ganzen Menschen, einschließlich der Handlungen, Gedanken und Gefühle. Daher könne eine totalitäre Ideologie keine andere neben sich bestehen lassen. 

Die Verfechter des „Wokeismus“, mit den Glaubenssätzen der Toleranz, Vielfalt und Gerechtigkeit, beschreibt Dreher als Anhänger eines Kults. Nur als solche verstanden, erkläre sich auch ihr Fanatismus. Unterstützend wirke ein entfesselter Kapitalismus: „Das moderne, amerikanische Ideal besteht darin, die Freiheit zu nutzen, um Wohlbefinden zu erlangen, wie jeder Einzelne es definiert – das heißt, ein Subjekt, das vollständig das Produkt von Wahl und Zustimmung ist.“ Schon mit der „Benedikt Option“, mit der Dreher 2017 eine „Strategie für Christen in einer postchristlichen Zeit“ vorlegte, rüttelte er am Selbstverständnis einiger zu selbstsicherer Konservativer. Insofern knüpft er hier an sein Vorgängerbuch an.

Dreher ist sich jedenfalls sicher: Eine Zeit der Verfolgung steht bevor. Wie (über)lebt man also in einem totalitären Regime, ohne sich selbst, seinen Glauben, seine Kultur, seine Anvertrauten oder Anvertrautes zu verlieren oder zu verraten? Es gilt, so der Autor, dem Vorbild von Widerstandskämpfern zu folgen: Gemeinschaften bilden, Überliefertes wachhalten und weitergeben.

„Jede Art des gemeinschaftlichen Tuns ist ein Akt des Widerstands“ 

Diese Vorbilder findet Dreher vor allem in den Dissidenten aus verschiedenen Teilen der Sowjet-union, die er im zweiten Teil seines Buchs vorstellt. So etwa Pater Tomislav Kolakovič (1906–1990), ein kroatischstämmiger Priester in der Slowakei, der dort vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach dem Abzug der Deutschen den Kommunismus drohen sah. Er gründete Gemeinschaften junger Gläubiger, die Bibelstudium und Gebet mit Vorträgen und Diskussionen über Philosophie, Soziologie und andere geistige Themen sowie zum Beispiel praktische Tips zum Überstehen eines Verhörs miteinander verbanden. Als 1948 die Kommunisten die Regierungsgeschäfte übernahmen, waren die Mitglieder dieser Gruppen auf die Kirchenverfolgung vorbereitet. Dreher schreibt dazu: „Die katholische Kirche leistete dort erfolgreich Widerstand, weil ein Mann vorausgesehen hatte, was auf sie zukommen würde, und seine Leute entsprechend vorbereitet hatte.“ Das ist das Ideal, das Dreher vorschwebt. 

Er erzählt die Geschichten von Leuten, die er getroffen hat. Darunter etwa ein russisch-orthodoxer Priester, ein ukrainisches Ehepaar, ein ungarischer Pfadfinder, eine tschechische Familie, ein russischer Baptisten-Pastor. Getreu Kolakovičs Losung „erkennen, urteilen, handeln“ sucht Dreher im zweiten Teil seines Buchs praktischen Nutzen aus den Geschichten zu ziehen. Wesentlich sei die gemeinschaftliche Erfahrung im Feiern von Festen, Wallfahrten, Konzerten etc. „Jede Art des gemeinschaftlichen Tuns ist ein Akt des Widerstands gegen ein Ethos, das besagt, daß die Vergangenheit keine Rolle spielt.“ Dabei nimmt er die westlichen Christen in die Mangel, die sich seiner Meinung nach zu sehr an den Komfort der Moderne angepaßt hätten. Der letzte Abschnitt des Buches ist eine religiöse Reflexion über die richtige Nachfolge Christi und über das Leiden: „Er verheißt uns nichts anderes als das Kreuz.“

Dreher argumentiert in seinem Buch auf drei Ebenen: einer geschichtlich-kulturellen, einer religiösen und einer politischen. Das Mixen dieser Ebenen wirkt stellenweise unübersichtlich. Wertvoll ist das Buch, indem es anspornt, die eigene Haltung zu hinterfragen und indem es Geschichten von Dissidenten sammelt und vorträgt.

Rod Dreher: Lebt nicht mit der Lüge! Media Maria, Illertissen 2023, gebunden, 272 Seiten, 22 Euro