© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/23 / 18. August 2023

Historiker brauchen keine religiösen Deutungsmuster mehr
Abschied vom Bösen
(ob)

Als Ronald Reagan im März 1983 in einer Rede vor Evangelikalen von der Sowjet-union als dem „Reich des Bösen“ sprach, erntete der Präsident in der westdeutschen Öffentlichkeit, der dieses tief in der US-Geschichte verankerte manichäisches Weltbild fremd war, nur Spott. Denn „das Böse“ war im Zuge der Säkularisierung aus dem Alltag genauso verschwunden wie aus der modernen Geschichtsbetrachtung. Eine kurze „Renaissance des Bösen“ registriert der Historiker Paul Nolte (FU Berlin) in der ersten Nachkriegszeit, als Theologen die Deutung der Hitler-Diktatur dominierten. In diesen frühen „Schuld“-Diskursen sei zur Erklärung der vom NS-Regime verursachten „Katastrophe“ letztmals das Böse bemüht worden, um keine konkrete gesellschaftliche Verantwortung benennen zu müssen. Als „apologetisch“ zurückgewiesen, hatte sich diese Rhetorik des „hilflosen Antifaschismus“ (Wolfgang F. Haug) in den frühen 1960ern verflüchtigt. Ihr Aufflackern will Nolte in Daniel Goldhagens ahistorischer Konstruktion eines bei den Deutschen genetisch fixierten „eliminatorischen Antisemitismus“ erkennen (zeitzeichen, 7/2023). Doch gerade die harsche Kritik an solchen kollektiven Wesenszuschreibungen habe gezeigt, wie chancenlos jede dämonisierende Naturalisierung sozialen Verhaltens in der Geschichtswissenschaft sei. 


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