© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/23 / 18. August 2023

„Gefangen in Aberglauben und Fetischismus“
Angeregt durch Black Lives Matter und das „Kritische Weißsein“: Anke Graneß will die globale Philosophiegeschichte afrikanisch deuten
Oliver Busch

Im altgriechischen, wörtlichen Sinn heißt Philosophie Liebe zur Weisheit. Aber schon die als „erste Philosophen“ geltenden Vorsokratiker verstanden ihr Geschäft weit umfassender als Suche nach tieferen, methodisch zu gewinnenden, objektivierbaren Einsichten in den Zusammenhang der Dinge sowie daraus abzuleitende Regeln für menschliches Verhalten und Zusammenleben: Theoria cum praxi. Damit prägten sie bereits vor 2.600 Jahren eine der abendländischen Kultur bis heute eigentümliche Auffassung von Philosophie als wissenschaftlich kontrollierter Weltanschauung.

So begreift auch Anke Graneß das die europäische Geistesgeschichte dominierende Selbstverständnis von Philosophie. Dieses möchte sie allerdings im Rahmen eines seit 2019 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten, an der Universität Hildesheim angedockten Reinhart-Koselleck-Projekts „Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive“ nachhaltig erschüttern. Wie ihre im Interview mit dem Standard im revolutionären Fanfarenton verkündete Forderung „Die Philosophiegeschichte muß neu überdacht werden“ (Ausgabe vom 25. März 2023) zu verwirklichen ist, läßt ihr in diesem Frühjahr erschienener Wälzer über „Philosophie in Afrika“ auf fast 700 Seiten erkennen. 

Die bisher im Fach nur mit wenigen Miszellen aufgefallene, 1967 in Eberswalde geborene, in der DDR sozialisierte Graneß, die lange zwischen Philosophie, Journalismus und Informatik pendelte, bevor sie 2010 in Wien über den „Begriff der Geistigkeit“ im Werk des kenianischen Denkers Henry Odera Ouruka promovierte, bewegt sich in diesem Opus magnum auf dem Boden des von ihrem Lehrer Franz Martin Wimmer in den 1990ern entwickelten Konzepts für eine „interkulturelle Philosophie“, die die herkömmlich „eurozentrische“ durch eine globale Philosophiegeschichte ersetzen möchte. 

Ein Unternehmen, das bei Wimmer noch nicht so massiv ideologisch aufgeladen war wie nun bei seiner Schülerin. Bekennt Graneß sich doch dazu, ihre Arbeiten seien von „großen antirassistischen Bewegungen wie Black Lives Matter“ und von „postkolonialen“, „Kritisches Weißsein“ propagierenden Aktivisten motiviert. Im Ergebnis ihrer Bemühungen in einer vermeintlich abseitigen Nische der Bewußtseinsindustrie wie der Philosophiehistorie, wenn die angestrebte „Dekolonisierung der schulischen und universitären Lehrpläne“ flächendeckend gelungen ist, wäre dann die wissenschaftlich-rationalistische europäische Philosophie bestenfalls nur akzeptiert als eine unter vielen sinnstiftenden, gleichen Anspruch auf Wahrheit erhebenden  „Ordnungen des Wissens“ (Michel Foucault). 

Verzweifelte Suche nach Spuren von Philosophie in Subsahara

Zugunsten der künftigen polyglotten, multiperspektivischen Philosophiegeschichte mit ihren „vielen Sprechern“, so glaubt Graneß, habe Wimmers „interkulturelle“ Vision eine relativistische Flut ausgelöst, die die europäische Philosophie derzeit in den Weltkontext einer Pluralität von Denk- und Anschauungsformen spüle und ihre exklusiv-elitären Positionen habe „obsolet“ werden lassen. Den Fluchtpunkt dieser Egalisierung formuliert dann der alte Sponti-Spruch „Quality is a myth“. Alles Denken ist gleich gültig, weil gleichgültig. Wenn Philosophiegeschichte wie jede Geschichte ein Medium der Vergegenwärtigung eigener und fremder Identität ist (Hermann Lübbe), dann ändert sich mit einer solchen anklagenden Umschreibung auch ein Stück europäischer Identität.

Graneß räumt zwar ein, daß Philosophie, die diesen Namen verdient, eng an Wissenschaft und Rationalität gebunden sein muß. Trotzdem empfindet sie es als Skandal, daraus ein Menschenbild zu formen, das sich mit der vernunftgeleiteten, autonomen Persönlichkeit, der ihr entsprechenden liberalen Gesellschaftsform und demokratischen politischen Kultur gegenüber allen anderen Daseinsentwürfen außerhalb des alten Kontinents als überlegen erwiesen hat. Und soweit wie europäische Philosophiegeschichten die darin steckende „stringente teleologische Fortschrittserzählung“ in ihren von Thales bis Wittgenstein reichenden Kontinuitätskonstruktionen wiederholten, schlossen sie alternative philosophische Weltdeutungen per „Hierarchisierung“ als minderwertig aus. 

Ein Ausgrenzungsprozeß, der sich, wie Graneß in einem der vielen kulturhistorisch ungemein materialreichen und durchaus belehrenden Kapitel ihres Buches eindrucksvoll belegt, um 1800 tatsächlich vollzogen hat. Denn in den freilich wenig ausgereiften Philosophiegeschichten des 18. Jahrhunderts war es üblich, auch „barbarischen Völkern“ philosophisches Talent zuzubilligen. Für Hegel hingegen gilt die orientalische Welt dann lediglich als nie verlassene „Vorstufe philosophischen Denkens“, während ihm Afrika südlich der Sahara überhaupt kein geschichtlicher Weltteil mehr ist. Dessen Bewohner mithin, weil „gefangen in Aberglauben und Fetischismus“, am „Fortschritt der Menschheit im Bewußtsein der Freiheit“ keinen Anteil haben konnten.

Für Graneß bahnt sich in solchen Denkschemata nur die geistige Wegbereitung und Rechtfertigung des „weißen“ Kolonialismus und des europäischen Sklavenhandels an. Nach der sachlichen Substanz von Hegels Urteil, gemessen am Erkenntnisstand zeitgenössischer Ethnologie und Geschichtswissenschaft, fragt sie vorsichtshalber nicht. Obwohl sie sich verzweifelt anstrengt, südlich der Sahara Goldkörnchen von Philosophie nachzuweisen. Aber vergeblich. Philosophiehistorisch relevant ist der Kontinent allein wegen der Kultur Alt-Ägyptens, des islamischen Nordafrika, des christlich-orthodoxen Äthiopien und der südafrikanisch-europäischen Kapkolonie. Nur auf Alt-Ägypten stützt sich auch der bislang spektakulärste Versuch, Philosophiegeschichte zum Vorteil Afrikas umzuschreiben: Martin Bernals Monographie „Black Athena“, die Ende der 1980er mit ihrer These, das klassische Griechenland habe afroasiatische Wurzeln, auf starke öffentliche Resonanz stieß, mittlerweile aber wissenschaftlich erledigt ist. 

Von Afrika bleibt also philosophiehistorisch nicht viel Interessantes übrig. Denn selbst die Denker der postkolonialen Epoche nach 1945 sind in ihrer großen Mehrheit Absolventen europäischer und nordamerikanischer Universitäten. Originär afrikanisches Denken ist deren Sache nicht. Zu den erheblichen Problemen bei der historiographischen Umsetzung ihrer Globalgeschichte der Philosophie, die Graneß scheibchenweise einräumt, zählt überdies ihr Umgang mit dem Frauenanteil in der Philosophiegeschichte. Den will sie sichtbar machen, um eine „Ahnengalerie von ‘Müttern’ philosophischen Denkens zur Orientierung für Studierende“ zu sammeln. So wie sie meint, ihre typisch europäische Idee einer „interkulturellen“ Philosophie, die letztlich Kulturen, die ihr als Verfechterin der globalistischen Ideologie ohnehin als „abgeschlossene Entitäten“ suspekt sind, täte als geistige Entwicklungshilfe unterschiedslos jedem Empfänger wohl, so ist sie überzeugt, mit dem fundamentalistischen Gleichheitsdogma die weltweite Frauenquote in der Philosophie steigern zu können. Weil ihr Projekt damit an einer Zukunft baue, „in der Frauen an der Schöpfung philosophischen Wissens gleichberechtigt beteiligt werden“. Graneß denkt hier ganz modern-technizistisch und glaubt, mit dem nötigen Geld in jeder Kultur ausreichend Philosophinnen „machen“ zu können. 

Vorherrschende mündliche Überlieferung in Afrika 

Ebensowenig vertraut sie darauf, deren frühere Beiträge zum Denken außerhalb Europas über den Promillebereich hinaus anheben zu können. Besonders in Subsahara-Afrika, wo sich schon aufgrund der vorherrschenden mündlichen Überlieferung kaum Männer als deren Vermittler historisch identifizieren lassen, dürfte die Chance, „weise“ Frauen in fernen Jahrhunderten zu entdecken, selbst mit exzessiver „Grundlagenforschung“ gegen Null gehen. 

Mit Enttäuschung reagiert Graneß schließlich auf ihren Befund, „Frauenfeindlichkeit und Sexismus“ seien in schwarzafrikanischen und afroamerikanischen Diaspora-Kulturen stets virulent gewesen. Deren Überzeugung, daß Frauen sich nicht zur Philosophie eignen, weil sie nicht logisch denken könnten, habe daher wohl, wie im patriarchalischen Islam, die Entstehung weiblicher Philosophie verhindert. Leider werde darum nur allzu deutlich, daß bis in die Gegenwart „in außereuropäischen Philosophietraditionen ein ähnlicher Ausschluß von Frauen stattgefunden hat und stattfindet wie in Europa“. 

Anke Graneß: Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophie­geschichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, gebunden, 685 Seiten, 30 Euro