Die CDU steckt in einem Dilemma. Die AfD gewinnt an Zustimmung in der Bevölkerung, weil sie deren Sorgen, Nöte und Ängste mit ihren Themen anspricht. Wenn die CDU aus ihrem Selbstverständnis heraus diese Themen aufgreift, gerät sie in ein links-grünes Sperrfeuer: Sie mache sich mit der AfD gemein, zu der sie ja eine Brandmauer aufrichten wolle. Die Medien machen bei diesem Spiel gerne mit. So sieht sich die CDU permanent zu Beteuerungen genötigt, daß sie weiterhin an der Brandmauer festhalte. Wenn sie aber diese Themen meidet oder sich nur verdruckst dazu äußert und sich so verhält, wie die anderen Parteien und die Medien es von ihr erwarten und verlangen, verliert sie weitere Stammwähler.
Über den Weg, wie sie sich aus diesem Dilemma befreien kann, ist die CDU mit sich selbst uneins. Zwei Stellungnahmen von Repräsentanten der CDU, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert wurden (12. und 16. Juni 2023), bestätigen diesen Befund. Roland Koch, früherer Ministerpräsident in Hessen, wirft CDU/CSU und SPD vor, ihr taktisches Schweigen habe neuralgische Themen zu Tabuzonen werden lassen. Wenn eine Mehrheit der Deutschen eine Reduzierung der Migration erwarte und fordere, dürfe man diese Unions- und SPD-Wähler nicht in die rechte Ecke prügeln. Die CDU müsse diese Themen aufgreifen und zu klaren politischen Fronten bereit sein. Vier Tage später hat der CDU-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, auf Koch geantwortet: Wer nur die billigen Punkte hervorhebe und sich mit den Populisten gemein mache, lege die Axt an die eigenen Wurzeln und stürze sich selbst ins Chaos. Die CDU müsse pragmatische Politik machen, um die Probleme der Zeit anzugehen.
Tatsächlich läuft das auf prinzipienlosen Interventionismus hinaus, der endgültige Abschied von Ludwig Erhard. Wüst beruft sich in seiner Stellungnahme auf Helmut Kohl und Angela Merkel. Sie hätten über Jahrzehnte hinweg die Regierungs- und Mehrheitsfähigkeit der Partei gesichert, so seine Argumentation. Er plädiert also für ein „weiter so“.
Der frühere Bundeskanzler Kohl kann sich gegen Wüsts Vereinnahmung nicht mehr wehren, aber wir können das ausdrücklich für ihn tun. Merkels Methode, die CDU vom ursprünglichen Kern zu lösen, um im linken Becken zu fischen, hat er nicht praktiziert und hätte dies auch nie getan. Angela Merkels Methode hat die CDU dermaßen ausgehöhlt, daß man sich fragen muß, ob und wie sie sich in der Opposition so zu wandeln vermag, daß sie wieder in den Status einer Volkspartei zurückkehren kann. Anderenfalls könnte ihr das Schicksal drohen, das dem Kölner Stadtarchiv im November 2009 widerfahren ist: Bei Sanierungsarbeiten brach es in sich zusammen. Man hatte nur etwas modernisieren wollen, hatte aber zuvor nichts zur Absicherung der Fundamente getan. Genauso, sagt der Ordensgeistliche Wolfgang Ockenfels, könne es auch einer sozialdemokratisierten CDU gehen, die ihre Wurzeln aus ihrem ursprünglichen Erdreich gezogen habe. Die Führung der CDU müsse darauf achten, daß ihre Wurzeln wieder im christlichen, konservativen und zugleich freiheitlichen Erdreich Halt finden.
Angela Merkels Methode hat die AfD groß gemacht. Genau davor hat der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß gewarnt. Wenn Teile in der CDU sich bei der Tabuisierung der AfD auf den berühmt gewordenen Satz von Franz Josef Strauß – „Rechts von der CDU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“ (9. August 1987) – berufen, so liegen sie falsch. Strauß wollte verhindern, daß eine erfolgreiche Partei rechts von der CDU entsteht; denn das hätte das politische Kräftespiel seiner Meinung nach dauerhaft zuungunsten von CDU/CSU verschoben. Darin war er sich mit Helmut Kohl vollkommen einig. Er hat die CDU geradezu beschworen, nicht ihre Stammwähler zu vergraulen. Die Annahme, auf national-konservative und national-liberale Wähler keine Rücksicht nehmen zu müssen, sei eine Fehlrechnung. Wie recht er hatte.
Was würde der macht- und zugleich verantwortungsbewußte Politiker Strauß der CDU jetzt raten? Ihm wäre bewußt, daß die von der CDU errichtete Brandmauer nicht verhindern könne, daß schließlich doch Funken übersprängen. Die konkurrierenden Parteien würden voller Schadenfreude die CDU darauf hinweisen, daß ihre Brandmauer löchrig sei, und sie zu Nachbesserungen nötigen. Wenn sie weiter hinter ihrer Brandmauer bemüht ist, nur keine Themen aufzugreifen, mit denen die AfD punktet, wird sie weitere Wähler verlieren. Ihre Führung wird sich zerstreiten und schließlich zerreiben.
Der respektlose Ton des früheren Ministerpräsidenten des Saarlandes, Tobias Hans, gegenüber Friedrich Merz – mittlerweile müsse man vor jedem Sommer-Interview von ihm zittern, weil man nicht wisse, was am Ende dabei herauskomme – läßt vermuten, daß er das nicht ohne Rückendeckung gesagt hat. Wenn zwei Ministerpräsidenten der CDU gemeinsam auf Wanderschaft gehen, Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen und Boris Rhein aus Hessen, werden sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bloß auf Pflanzen und Hasen aufmerksam gemacht haben, sondern auch über die zukünftigen politischen Aufgaben für die CDU und das geeignete politische Personal nachgedacht haben. Dabei werden sie die Personalie Friedrich Merz und mögliche Alternativen nicht ausgeklammert haben. Die sich häufenden Aufrufe zur Geschlossenheit sind Hinweise darauf, daß solche Überlegungen in der CDU allgemein kursieren. Das wird so lange nicht aufhören, wie die CDU hinter der von ihr errichteten Brandmauer verharrt
Dieser ganze Vorgang erinnert an Immanuel Kants Essay „Was ist Aufklärung?“ Seine Antwort lautet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Selbstverschuldet sei diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht an Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt. Unmündig ist die CDU, wenn sie hinter ihrer Brandmauer verängstigt darauf hört, was die anderen Parteien und die Medien über sie sagen. Faulheit und Feigheit seien die Ursachen, warum die Menschen zeitlebens unmündig blieben. „Sapere aude“, würde Kant der CDU zurufen, „habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Habe Mut, dich deiner Selbstfesselung zu entledigen. Auch Franz Josef Strauß würde der CDU raten, aus dem Belagerungsring auszubrechen, den konkurrierende Parteien, Medien und auch Mitglieder der CDU selbst um sie gezogen haben. Natürlich muß sie nach dem Schleifen der Mauer damit rechnen, daß sie mit den schlimmsten Vorwürfen konfrontiert wird, die man der Geschichte Deutschlands entnehmen kann. Aber auch das war Kant schon bekannt: Wenn die Menschen sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien, sagen ihnen ihre selbsternannten Vormünder, wie gefährlich die Welt außerhalb des Gängelwagens ist.
Wenn sich die CDU nach dem Befreiungsschlag auf freiem Felde wiederfindet, muß sie sich darüber klar werden, was sie überhaupt will. Strauß würde ihr zu einem Aktionsprogramm raten, das auf die konkreten Sorgen und Ängste der Bürger eingeht. Vorrangige Aufgabe wäre dabei, sich der von Angela Merkel hinterlassenen Hypotheken zu entledigen. Was für die Führung der CDU zu tun wäre, hat Wolfgang Reitzle, ein politisch denkender Unternehmer, in seinem Kommentar „Illusion vom anstrengungslosen Wohlstand“ (5. August 2023) aufgeführt. Dieses Programm kann die CDU eins zu eins übernehmen. Reitzles Urteil über die Regierungszeit der früheren Bundeskanzlerin ist vernichtend. Sie hat im Alleingang die weltweit zuverlässigste Kernenergie entsorgt, Deutschlands Grenzen für Migrantenströme geöffnet und den Weg der Europäischen Währungsunion in eine umfassende Haftungsgemeinschaft gebahnt. Sie hat den Euro zu einer Domäne romanischer Politik werden lassen. Verzichten sollte die CDU auf Schnellschüsse aus der Hüfte. Deutschland braucht ein umfassendes Reformprogramm.
Welche Partei hätte die CDU bei der Umsetzung eines solchen Programms an ihrer Seite? Die SPD kommt als Koalitionspartner immer weniger in Betracht. Was soll man von der Führung einer Partei halten, der als Antwort auf die globalen Herausforderungen bloß die Viertagewoche und eine stärkere Anhebung des Mindestlohnes einfalen. Ob die Grünen die bessere Alternative wären? Sie lassen lieber die deutsche Industrie vor die Hunde gehen oder abwandern, wenn sie glauben, so der Rettung der Welt ein Stück näher zu kommen.
Es gibt eine klare bürgerliche Mehrheit für eine Politik, die Deutschland wieder Fuß fassen, am Berg vorankommen und nicht weiter abrutschen läßt. Von dem Feldgeschrei – „Vorsicht Gift, nicht anfassen, Unberührbare“ – darf die CDU sich nicht irre machen lassen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Programm der AfD wird sie feststellen, daß diese die Themen der Zukunft aufgreift: Migration, Staatsverschuldung, Haftungsverpflichtung in der Europäischen Währungsunion, inflationäre Entwertung von Sparguthaben und Realeinkommen, Zukunftsfestigkeit der Sozialsysteme, Deeskalation im Ukraine-Krieg und – nicht zu vergessen – die Mode des Genderismus.
Aber wie soll die CDU als Europapartei mit der Einstellung der AfD zur Europäischen Union (EU) auf ihrem Europa-Parteitag umgehen, die oft als europafeindlich gebrandmarkt wurde? Die kritische Einstellung der AfD zur EU ist berechtigt. Wer mit den Praktiken der EU vertraut ist, weiß, daß diese immer mehr in Richtung einer Umverteilungsagentur abrutscht. Die wichtigen Entscheidungen werden in Hinterzimmern getroffen. Zentralisierung und Bürokratisierung gängeln die Menschen und behindern die Wirtschaft bei ihrer Arbeit. Das Europäische Parlament setzt sich für Zentralisierung von Kompetenzen ein, weil sich so auch seine eigene Einflusssphäre ausweitet. Heute findet das Subsidiaritätsprinzip immer weniger Beachtung; stattdessen gilt die Maxime, alles, was auf europäischer Ebene gemacht werden kann, gehört nach Brüssel.
Franz Josef Strauß würde der CDU empfehlen, in Gesprächen mit der AfD zu sondieren, ob sich nicht mit ihr eine Politik für Deutschland machen ließe, hinter der ihre jetzigen und auch ihre früheren Stammwähler stehen. Vor allem würde ihr der Vollblutpolitiker Franz Josef Strauß zurufen: Laßt euch nicht am Nasenring durch die Manege führen.
Prof. Dr. Joachim Starbatty, Jahrgang 1940, Volkswirt-schaftler, lehrte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, war Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und von 2014 bis 2019 Mitglied des EU-Parlaments.