© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/23 / 18. August 2023

Konstanten des Daseins erforscht
Aufklärer ohne Mission: Der konservative Ausnahmegelehrte Panajotis Kondylis wäre diese Woche achtzig Jahre alt geworden
Felix Dirsch

In der Zuspitzung des eigenen Werkes zeigt sich der Charakter eines Denkers am besten: Für den griechischen Privatgelehrten Panajotis Kondylis, der besonders in Deutschland bekannt geworden ist, trifft dieser Grundsatz besonders zu. In seinem Todesjahr 1998 notierte er, daß zu jeder Zeit „die Ideologie der Sieger den Besiegten einen Rahmen zur Interpretation der Wirklichkeit“ liefere, ihre Niederlage „mit der Übernahme des Siegerstandpunktes besiegelt“ werde. Damit hat er pointiert den bundesrepublikanischen Überbau für jede wichtige politische Entscheidung hervorgekehrt. Er tritt in allen Konsequenzen umso deutlicher hervor, je weiter das Kriegsende sich chronologisch entfernt, aber als kollektiv internalisierte „Psychologie der Niederlage“ (Thorsten Hinz) dennoch nicht vergeht. Diese „Volksverletzung“ (Leon Wilhelm Plöcks) hat sich längst vom historischen Ursprung gelöst. Sie entwickelt von Generation zu Generation ein mitunter skurriles Eigenleben.

Kondylis ging es nicht nur darum, einen Blick in Entwicklungen des deutschen Seelenlebens zu werfen; vielmehr interpretierte er die Widersprüche von Ideologie und Wirklichkeit auf grundlegende Weise.

Er verzichtete auf eine akademische Karriere

Sätze wie der eingangs zitierte waren dem Ausnahmepublizisten nicht in die Wiege gelegt. Seine frühe Biographie ließ eher eine andere Richtung erwarten. Aus gutsituiertem Haushalt mit achtbarer Familiengenealogie stammend, engagierte er sich als Student in seinem Heimatland bei den Linken. Widerstand gegen die Militärdiktatur war für ihn selbstverständlich.

Kondylis’ Wunsch, in den 1970er Jahren nach Deutschland überzusiedeln, hing mit auffallenden Sympathien für die deutsche Geistesgeschichte zusammen. Das Thema seiner Dissertation „Die Entstehung der Dialektik“ ist der beste Beleg dafür. Diese Studie zeichnet die geistige Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802 nach. Als Linker wäre es naheliegend gewesen, sich mit Gesinnungsgenossen, vornehmlich mit Vertretern der Frankfurter Schule also, ins Benehmen zu setzen. Stattdessen knüpfte er in Heidelberg Kontakte zu dem bekannten Idealismus-Forscher Dieter Henrich und zu dem Sozialhistoriker Werner Conze, einem der Väter des Standardwerks „Historische Grundbegriffe“. Verbindungen zu dem Politologen Hans-Joachim Arndt schärften seine Perspektive für die besondere Situation der „Besiegten von 1945“, wie der Titel einer provokativen Schrift Arndts lautet.

Kondylis ließ sich nach der Promotion in Deutschland dauerhaft als Privatgelehrter nieder, unterbrochen von längeren Aufenthalten in Griechenland. Er verfügte über ausreichende Unterhaltsmittel, um auf eine Karriere in akademischen Institutionen verzichten zu können; denn Anpassungsfähigkeit zählte nicht zu seinen Stärken. Seine stupende Gelehrsamkeit, ungewöhnliche Belesenheit und starke Orientierung an Quellen und Primärliteratur demonstrierte er anhand kundiger Abhandlungen, die die Aufmerksamkeitsökonomie der Leser durchaus strapazieren.

In den frühen 1980er Jahren fand Kondylis’ Arbeit über „Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus“ große Aufmerksamkeit. Eine so wirkmächtige Epoche wie das 18. Jahrhundert zu vermessen war schon vor Jahrzehnten kein leichtes Unterfangen. Mit viel Material versucht der Autor zu belegen, daß die sensualistische Strömung dieses Zeitalters, in der materialistische Autoren wie La Mettrie und d’Holbach eine wichtige Rolle spielen, als Reaktion auf die (öfter einseitigen) rationalistischen Grundlagen der frühen Aufklärung zu verstehen ist.

Mit der Adelsgesellschaft endete auch der Konservatismus

Die Debatten über diese Darstellungen waren kaum beendet, als das nächste umfangreiche Buch erschien. 1986 veröffentlichte der produktive Autor seine Untersuchung über den „Konservativismus“. Seine bis heute diskutierte These lautet: Mit dem Ende der europäischen Adelsgesellschaft ab 1789, als deren Verteidiger sich authentische Konservative stets verstanden haben, ist auch der „Konservativismus“ im eigentlichen Sinn untergegangen. Seither ist (Kondylis zufolge) unklar, was mit dem Adjektiv „konservativ“ gemeint sei.

Die bald danach folgende Darstellung über europäische Metaphysikkritik, die einen Bogen von Aristoteles zu Heidegger schlägt, wird nicht vergleichbar intensiv rezipiert, obwohl ihre Lektüre überaus lohnend ist. Diese Publikation geht in vielen Beispielen auf die Unvereinbarkeit von Transzendenz und deren vernünftige Erfassung ein. 

Kondylis hat eine Reihe weiterer Bücher vorgelegt, darunter Betrachtungen über den „Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ und über die „Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg“. Zudem verfaßte er viele kleinere Beiträge zum Zeitgeschehen und Lexikonartikel.

Kondylis hat sich nicht nur durch riesige Stoffmassen gekämpft, sondern seine methodischen Kategorien wortmächtig begründet. Wesentliche anthropologische Grundeinsichten werden vor allem in der Studie „Macht und Entscheidung“ herausgearbeitet. Selbsterhaltung, Machtstreben und Entscheidung sind fundamentale Konstanten der Daseinsbewältigung. In seinem Werk werden sie in immer neuen Varianten behandelt. Weiterhin sind Tatsache und Entitäten wie Objektivität und Objektivierung von Bedeutung, ebenso Normen und Werte, Nihilismus, Materialismus und Skeptizismus. Zudem beschäftigte er sich mit Themen wie Universalismus, Relativismus, Toleranz, Utopie und Globalisierung. Der tiefschürfende Wissenschaftler interessierte sich vornehmlich für sozialhistorische, ontologische und anthropologische Gehalte von Macht und Herrschaft, nicht dafür, wie beide zu zähmen sind. Identität entsteht demnach infolge vorbewußter Entscheidungen, was die Wertigkeit von Rationalität als Mittel der Daseinsbewältigung etwas relativiert.

Ein Freundeskreis pflegt Kondylis’ Erbe

Diese Betrachtungsweise unterscheidet Kondylis von dem in den Sozialwissenschaften üblichen normativen Blickwinkel. Dieser nimmt Handlungsweisen in Augenschein, wie sie sein sollen. Kondylis will aber seinerseits nicht in das genaue Gegenteil dieser methodischen Zugangsweise verfallen, das vom praktischen Dezisionismus Carl Schmitts repräsentiert wird. Die Gefahr des politischen Mißbrauchs der Freund-Feind-Dichotomie ist an dieser Stelle offenkundig. Stattdessen plädiert Kondylis für das Analysewerkzeug des „deskriptiven Dezisionismus“. Dieses theoretische Instrumentarium soll helfen, die Entstehung und Funktion von Machtmechanismen möglichst wertfrei zu erhellen. Dabei nimmt er Anleihen bei einer langen Reihe von Denkern. In spärlicher Auswahl ist auf Thukydides, Hobbes, Montesquieu, Clausewitz, Marx und Schmitt hinzuweisen. 

In den letzten Jahren seines Lebens – er verstarb 55jährig anläßlich eines Aufenthalts in Griechenland an Herzproblemen – beschäftigte er sich intensiv mit Vorarbeiten zu einer umfassenden Sozialontologie. In seinem Nachlaß fand man unter anderem eine Unmenge von Notizen und Zettelkästen, die er bei der Abfassung verwenden wollte. 

Gisela und Falk Horst, die Kondylis persönlich kannten, initiierten um 2000 einen Freundeskreis in Heidelberg. Dieser pflegt das Erbe des philosophisch orientierten Sozialhistorikers. Bereits 1999 wurde der erste voluminöse Band der Sozialontologie unter dem Titel „Das Politische und der Mensch“ aus dem Nachlaß publiziert. Der Text mußte Fragment bleiben. Der Autor setzt bei der konfliktiven Natur des Menschen als Grundlage der Gesellschaftlichkeit an. Finanzielle wie personelle Engpässe mögen dafür verantwortlich gewesen sein, daß der zweite und dritte Teil des Werks erst im Laufe des Jahres 2023 erscheinen sollen, neben anderen angekündigten Texten.

Kondylis ist in der geisteswissenschaftlichen Landschaft nicht vergessen. Falk Horst hat 2007 einen Sammelband herausgegeben, in dem renommierte Wissenschaftler, von Reinhart Koselleck bis Peter Furth, das Œuvre Kondylis’ ausführlich würdigen. 2019 legte Gisela Horst ihre Dissertation „Panajotis Kondylis“ vor, eine biobibliographische Arbeit über den mehrfach Geehrten. 

Man muß kein Kenner gegenwärtiger geistesgeschichtlicher Debatten sein, um festzustellen, daß Kondylis weder im eigenen Lager noch darüber hinaus adäquate Nachfolger gefunden hat. Selbst ein für das rechte Denken so verdienstvoller Publizist wie der kürzlich verstorbene 68er-Renegat Günter Maschke konnte die Lücke nicht füllen. Mit Kondylis findet der bisweilen exzessiv-hypermoralistische Normativismus der bundesdeutschen Gegenwartskultur einen Kontrapunkt.

Gisela Horst: Panajotis Kondylis. Leben und Werk – eine Übersicht. Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, kartoniert, 562 Seiten, 58 Euro

Panajotis Kondylis: Konservativismus. Matthes & Seitz, Berlin 2023, gebunden, 869 Seiten, 58 Euro

Panajotis Kondylis: In konkreter Lage. Gespräche Matthes & Seitz, Berlin 2023, broschiert, 180 Seiten, 16 Euro (Das Buch erscheint am 31. August)