Zehn Jahre nervt die AfD ihre politischen Gegner jetzt schon mit unbequemen Gegenpositionen zu wichtigen politischen Fragen, in denen unter „Ideenstaubsauger“ Angela Merkel (eine Formulierung von Martin Schulz) bei den führenden Akteuren des gesellschaftlichen Diskurses ein Konsens erzielt – man könnte auch sagen: herbeipropagandisiert – worden ist. Bundeswehr, Homo-Ehe, Massenmigration, Währungsstabilität, Infektionsschutz, EU-, Energie-, Umweltpolitik: Zu keinem dieser Politikfelder gab es in der letzten Phase der Ära Merkel einen nennenswerten Dissens zwischen den bundesrepublikanischen Blockparteien. Alles könnte so schön sein, wenn es nicht die lästigen Quertreiber von der AfD gäbe, die die demokratische Harmonie stören.
Zehn Jahre dauerte auch die Belagerung Trojas durch die Griechen, ehe endlich ein Geniestreich die Wende brachte. Die rettende Idee kam dem ruhmreichen Odysseus: In einem riesigen Holzpferd, das den Trojanern als Geschenk überreicht werden sollte, könnten sich die heldenhaftesten Kämpfer der Griechen versteckt halten, um sodann, nachdem das Pseudo-Geschenk die Stadtmauern Trojas passiert hätte, in einer Kommandoaktion den Feind im Schlaf zu überrumpeln. Wie wir alle wissen, hat das geklappt. Von den Griechen lernen heißt also siegen lernen. Mehr noch als für das reale Schlachtfeld gilt dies für die gewaltfreie Auseinandersetzung in der parlamentarischen Demokratie: Jede List, die den Gegner neutralisieren kann, ist willkommen.
Die List, die die etablierten politischen Akteure ersonnen haben, um die mentale Verfassung der Bundesrepublik so umzugestalten, daß vom Hauptstrom abweichende Positionen per Automatismus geächtet sind, besteht in der auffallend einhellig gedroschenen Phrase von den „demokratischen Parteien“. Damit meinen Grüne, SPD, CDU & Co. – natürlich – sich selbst. Gegen wen sich die rhetorische Finte richtet, dürfte klar sein. Aber wer wird damit wirklich getroffen?
Nur vordergründig geht es beim „Verdachtsfall“ AfD und beim „Demokratiefördergesetz“, durch das die Regierung zivilgesellschaftliche Gesinnungsgenossen durch Volksvermögen alimentieren will, darum, einen Gegner kaltzustellen, der einem in den Parlamenten finanziell einträgliche Sitze wegnehmen kann. Schwerer wiegt, daß in die Tiefenstruktur des politischen Systems der Bundesrepublik durch die beharrliche Arbeit von Parteifunktionären und die effiziente Nutzung der mit ihnen verbundenen Propagandakanäle im Medien-, Wissenschafts- und Kulturbetrieb ein auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehendes und vom Marxismus an seine Gesellschaftstransformationslehre adaptiertes Staatsverständnis eingesickert ist.
Die Corona-Krise hat den Nachweis erbracht, daß dieses klassisch linke Staatsverständnis, zumindest unbewußt, inzwischen auch von Kreisen der CDU/CSU und der jetzt konformistisch mitregierenden Liberalen geteilt wird. Da steht ein Monstrum vor den Toren des bundesdeutschen Gemeinwesens, ein riesiges Holzpferd, und in Großbuchstaben prangt darauf das Wort DEMOKRATIE. Aber innen drin, da hocken lauter kleine Demokratiefeinde, die auf dem Kriegsfuß stehen mit dem für jede freie Gesellschaft konstitutiven Pluralismus!
Rousseau hatte gelehrt, daß der allgemeine Wille (die volonté générale) des Volkes beständig der richtige sei und die einzige Aufgabe der Exekutivgewalt eines Staates darin bestehe, diesen beständig richtigen Volkswillen auszuführen. Zuvor muß allerdings eine Erziehung des Volkes zur Tugend (frz.: vertu) erfolgen, damit wirklich alle das Richtige erkennen und dann auch wollen. Tugend bedeutet für Rousseau die totale Kongruenz von Einzel- und Gemeinschaftswillen. Das Tugendhafte zu wollen, sei, so der Philosoph, die wahre Freiheit.
Jeder konnte ab März 2020 diesen totalitären Tugend-Begriff in Aktion sehen: Von Rousseau führt ein direkter Weg zum Skandalon Impfpflicht, maskiert eingeführt als „2-G-Regel“ von einem Staat als Sachwalter des beständig Richtigen. Grundrechte, die Freiheiten des Individuums schützen und Gefahr laufen, dem vom Staat verwalteten allgemeinen Willen im Weg zu stehen? Dafür war in Rousseaus Denken kein Platz. Seit das Grundgesetz ins Pensionsalter gekommen ist, scheinen immer mehr politische Akteure es aufs Altenteil schicken und die Freiheitsdemokratie in eine Rousseau’sche Tugend-Demokratie umgestalten zu wollen.
Daß auch die dritte Gewalt willfährig an diesem Umbau mitwirkt, beweisen das Urteil eines Kölner Gerichts, das erlaubte, die AfD zum verfassungsfeindlichen Verdachtsfall zu erklären, und die Zögerlichkeit des Bundesverfassungsgerichts im Umgang mit AfD-Beschwerden („In Karlsruhe ticken die Uhren anders“, JF 30/23). Wie aber konnte es so weit kommen, daß eine reife Zivilgesellschaft sich das Gegenteil von Demokratie, also autoritären Staatsdirigismus und Gewaltenteilung in der Schwundstufe, als willkommenes Geschenk andrehen läßt? Kann man wirklich so dumm sein?
Dumm waren die Trojaner nicht, nur leichtgläubig. Immer gibt es kluge Mahner wie den Priester Laokoon, der den Betrug sofort witterte. Legendär seine Warnung: „Ich fürchte die Danaer – besonders, wenn sie uns Geschenke bringen.“ Den Griechen war klar, daß sie ihr Lügengebäude glaubhaft präsentieren mußten, sollte es nicht schon vor dem Tor von Troja in sich zusammenfallen. An dieser Stelle kommt Sinon ins Spiel. Sinon? Jeder kennt Hektor, Odysseus, Kassandra – aber wer ist Sinon? Sinon ist derjenige unter den Griechen mit der heikelsten Mission und dem miesesten Charakter: Er muß die Trojaner davon überzeugen, daß die Streitkräfte des Feindes abgezogen sind und von ihnen keine Gefahr mehr droht.
Damit die Lüge funktioniert, zieht er eine grandiose Show ab: Was er gerade durchgemacht habe, das könne sich keiner vorstellen! Schlachten und den Göttern zum Fraß vorwerfen wollen, habe man ihn nach dem Ende des Feldzugs, berichtet der völlig zerzauste Flüchtling. Doch er habe seine Fesseln abstreifen, fliehen, sich im Sumpf verbergen können. Ausgestoßen und vogelfrei sei er, ein ganz armer Kerl, der um Asyl bitte.
Was nun folgt, ist die infamste seiner Lügen: Das Weihegeschenk für die Schutzgöttin Athene, das hölzerne Pferd, sei so groß, damit es nicht durch das Tor der Trojaner passe. Würde es hineinkommen, stünde die Stadt nämlich unter Athenes besonderem Schutz. Die stille Hoffnung der Griechen, behauptet Sinon, sei, daß die Trojaner das geweihte Holzmonument zerstören und so den Zorn der Zeus-Tochter auf sich ziehen würden.
Sinon ist der mythische Garant dafür, daß keine Lüge schamlos genug sein kann, um nicht trotzdem so viele Gläubige um sich zu scharen, daß dadurch ein ganzes Volk ins Verderben getrieben wird. Nicht Achills Sieg über Hektor, nicht die List des Odysseus, sondern die Lügenkunst Sinons brachte die entscheidende Wende im Trojanischen Krieg. Sinon, der Meister der Heuchelei, ist der Prototyp all der Täuscher und Totengräber der Demokratie hierzulande, die jedes Mal, wenn sie vom Gemeinwohl reden oder das Wort Demokratie in den Mund nehmen, selbige ein Stückchen mehr erledigen.
Thomas Haldenwang und seine Dienstherrin Nancy Faeser sind solche Täuscher: sie eine blasse Bürokratin, er ein loyaler Lakai, Westentaschen-Sinons beide, die wie ihr sagenhaftes Vorbild vor dem großen Schritt ins Rampenlicht keiner kannte. Jetzt nutzen sie die Gunst der Stunde, um mit schaurigem Schmierentheater groß rauszukommen: Viele Mikrofone richteten sich auf das Duo infernale, als es im letzten Jahr seinen „Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ vorlegte oder als am 9. Mai dieses Jahres der Verfassungsschutzbericht zu politisch motivierter Kriminalität (PMK) vorgestellt wurde und dabei die nicht ganz unwesentliche Information unter den Tisch fiel, daß seit zehn Jahren linke Gewalttaten rechte quantitativ übertreffen.
Einen famosen Sinon-Auftritt legte Haldenwang zuletzt als Kommentator eines Parteitags der Opposition hin. Der Vorwurf der „verfassungsfeindlichen Bestrebungen“ ist Verdunkelungsrhetorik nach Sinon-Art. Er folgt konsequent einer ideologisch angepaßten Definition des Begriffs der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die das Ideal eines ethnisch homogenen Staatsvolks willkürlich zum Verfassungsdelikt erklärt. Mit der geistigen Verfassung der Tugend-Demokratie sind nämlich „völkisch-nationalistische Gesinnungen“, die im rechten Milieu ohne Frage ihren festen Platz haben, unvereinbar, verfemt, wie es eine „imperialistische“ Gesinnung früher im SED-Staat war. Anders sieht es in der Freiheitsdemokratie aus: Hier ist die „völkisch-nationalistische Gesinnung“ eine Weltanschauung unter vielen. Und diese stellt das Grundgesetz an mehreren Stellen (Art. 4, 7, 33) ausdrücklich unter Schutz. Kein Wort davon, als Faesers profilloser Parteigenosse Frank-Walter Steinmeier vorige Woche zum 75. Jahrestag des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee vor „Verächtern unserer Demokratie“ warnte.
Als vor vierzig Jahren mit den Grünen eine Partei die politische Bühne betrat, die offen für ein anderes politisches System eintrat und die Bundesrepublik als korruptes Kapitalistenregime anfeindete, hätte Innenminister Friedrich Zimmermann bestimmt gejuchzt vor Freude, wenn er so bedenkenlos Delegitimationsmaßnahmen gegen die neue oppositionelle Kraft hätte ergreifen können, wie es Faeser und ihr Handlanger Haldenwang heute dürfen. Doch wer aus ideologischer Voreingenommenheit politische Debatten unterbindet, wer Parteien bei ihrem grundgesetzlich verankerten Auftrag behindert, „bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken“ (Wortlaut Art. 21 GG), und wer in einem Folgeschritt Staatsdienern wegen ihrer „Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung einen Nachteil erwachsen“ läßt (Wortlaut Art. 33 GG), der schmuggelt ein Trojanisches Pferd in die Festung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, um diese von innen zu zerstören.
Die „Leugnung der Legitimität politischer Gegner“ und die Einleitung rechtlicher Schritte zur Schwächung von „Kritikern in konkurrierenden Parteien“ durch Regierungsorgane sind nach Ansicht von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zwei von vier „Schlüsselindikatoren für autoritäres Verhalten“ und beginnende Repression. Mit ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ (2018) hatten die beiden Harvard-Professoren eigentlich vor einem Verfassungsfeind namens Donald Trump warnen wollen. Jetzt warnen sie vor Scholz und Faeser.
Nicht in jeder Verpackung, auf der Demokratie draufsteht, ist auch Demokratie drin. Mit der Wachsamkeit Laokoons sollte eine wache Zivilgesellschaft „Demokratiefördergesetze“ und „Aktionspläne gegen Rechts“ unbedingt auf gut getarnte Hohlräume abklopfen, in denen sich bis an die Zähne bewaffnete Ideologen verstecken können, die nichts weniger im Schilde führen, als das gesamte Denken, Wollen und Fühlen eines Volkes unter ihre Kontrolle zu bringen.