Es sind Worte, die vor Ironie nur so strotzen. „Der deutsche Mittelstand begrüßt es sehr, wenn die Union ihrer Oppositionsrolle nach einer zweijährigen Findungsphase nun endlich gerecht werden will und sich nach zwanzig Jahren nun wieder spürbar auf ihre wirtschaftliche
Kompetenz besinnt“, heißt es in einer Pressemit-teilung des Bundesverbands der Mittelständischen Wirtschaft (BVMW). Das Pikante dabei: Der Autor der bissigen Zeilen ist ein CDU-Mann. Seit einigen Wochen ist Christoph Ahlhaus, ehemals Erster Bürgermeister Hamburgs, neuer Bundesgeschäftsführer des Verbands. Dort sind die Sorgen groß. Alle relevanten wirtschaftlichen Kennzahlen zeigen nach unten. In Sachen Infrastruktur, Fachkräfterekrutierung und Digitalisierung hinkt Deutschland seit Jahren hinterher.
Und die oppositionelle Union hat offenbar vergessen, daß sie die Republik mehr als eineinhalb Jahrzehnte regiert hat. Denn mitten während der Sommerpause forderte sie ein Sofortprogramm für die Entlastung von Bürgern und Unternehmen. Dazu stellten die CDU- und CSU-Chefs Friedrich Merz und Markus Söder sowie Hessens Ministerpräsident Boris Rhein Anfang August den Fünf-Punkte-Plan vor. Es dürfte kein Zufall sein, daß Söder und Rhein mit dem CDU-Chef vor die Presse traten. Direkt nach der Sommerpause beginnt die heiße Phase der Landtagswahlkämpfe in Bayern und Hessen. Da machen sich Vorschläge, wie man die Wirtschaft aufpäppeln kann, gut.
„Die Grünen müssen die Rechnung ja nicht bezahlen“
Wirklich innovativ sind die fünf Punkte allerdings nicht. Keine Erhöhung der Erbschaftssteuer, keine Anhebung der Grundsteuern,
Inflationsausgleich sowie die Abkehr vom umstrittenen Heizungsgesetz. Alles Themen, die seit Monaten diskutiert werden. Daß die Union versucht, alten Wein in nicht mehr ganz so neuen Schläuchen zu verkaufen, ist Parteifreund Ahlhaus nicht entgangen. Er erinnert daran, daß auch die Unionsparteien für zahlreiche katastrophale Fehlentwicklungen der letzten Jahre in unserem Land verantwortlich seien. „Der ungewöhnlich laute Weckruf zahlreicher
Unternehmerpersönlichkeiten in diesen Tagen darf nicht ungehört bleiben. Dafür ist der Fünf-Punkte-Plan der Union noch deutlich zu wenig ambitioniert“, sagte Ahlhaus. Merkel 2.0 genüge nicht, um den drohenden Totalabstieg in die internationale Bedeutungslosigkeit aufzuhalten. „Bis Anfang September sollten CDU/CSU ein umfassendes Sofortprogramm für den Sanierungsfall Deutschland vorlegen. Die nach wie vor starke Innovationskraft der deutschen Wirtschaft muß endlich aus dem ideologischen Würgegriff befreit werden“, forderte Ahlhaus.
Die Sorgen des Mittelstands, von der Politik gerne als Herz der deutschen Wirtschaft bezeichnet, sind groß. Einer Umfrage des BVMW zufolge denken die Inhaber von mehr als jedem vierten mittelständischen Unternehmen ans Aufgeben. Mehr als jeder fünfte Mittelständler erwägt eine Verlagerung des Geschäfts ins Ausland. Die befragten Unternehmer fühlen sich durch bürokratische Hürden, zu hohe Steuern und durch fehlende Fachkräfte am stärksten eingeschränkt. Der Verbandsvorsitzende des BVMW, Markus Jerger, spricht von einem Warnsignal: „Wenn heimatverbundene, tief verwurzelte Unternehmerinnen und Unternehmer über Geschäftsaufgabe nachdenken oder den Weggang ins Ausland in Erwägung ziehen, kann das niemanden kalt lassen.“
Die generelle Steuerlast in Deutschland wird von Unternehmen immer wieder moniert. Im Vergleich sind die Unternehmenssteuern hierzulande mit knapp 30 Prozent recht hoch. Linderung will Finanzminister Christian Lindner (FDP) mit seinem „Wachstumschancengesetz“ schaffen. Doch darüber ist man sich innerhalb der Ampel-Koalition noch uneins. Ebenso, wie es mit der Mehrwertsteuer weitergeht, die während der Corona-Krise auf sieben Prozent abgesenkt wurde. Sollte sie im kommenden Jahr wieder auf 19 Prozent steigen, wären die Auswirkungen gerade für die Gastronomie dramatisch. Die verbandsinterne Umfrage hat auch deutlich gezeigt, daß es trotz der Masseneinwanderung der vergangenen Jahre nach wie vor an qualifiziertem Personal fehlt. „Mehr als jedes zweite kleinere und mittlere Unternehmen in Deutschland kann freie Stellen langfristig nicht besetzen, weil qualifiziertes Personal fehlt.“ Was es jetzt dringend brauche, seien „zeitgemäße Aus- und Weiterbildungskonzepte, um beispielsweise das Potential der Generation 50 Plus oder Geflüchteten und Zuwanderern zu heben“, sagte Jerger gegenüber tagesschau.de.
Es geht dabei nicht nur um Probleme des Mittelstands. Doch dort kommt die Krise besonders deutlich an. Viele Unternehmen sind über Generationen familiengeführt. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seien so schlecht, daß sich ein Nachfolger im Familienkreis nicht mehr finde lasse, heißt es aus dem Verband. Deutschland sei „wie gelähmt“, warnte die Präsidentin des Verbandes der Familienunternehmer, Marie-Christine Ostermann, vor einigen Monaten. „Mit der Politik der Ampel können wir als Unternehmer nicht zufrieden sein.“ Die Firmenchefin aus Hamm wurde im April zur Verbandspräsidentin gewählt und hat sofort harte Töne angeschlagen. „2009 ist die Schuldenbremse beschlossen worden. Das war der letzte Reformschritt, an den ich mich erinnere“, sagte sie. Atomausstieg, Rente mit 63, Bürokratie, überstürzte Energiewende – zudem wurde „die Digitalisierung verschlafen und der Ausbau der Infrastruktur verschleppt“.
Besonders Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist ein Feindbild der Mittelständler und Familienunternehmer. „Die Grünen müssen die Rechnung ja nicht bezahlen“, stichelt Ostermann: „Die dauerhaft teurer gewordene Energie wird zu einer Deindustrialisierung der Republik führen, davon bin ich leider überzeugt.“
Die Probleme sind in jeder Branche dieselben
Es fehle überall an Nachwuchs. Und wer auf den Arbeitsmarkt käme, sei oft schlecht ausgebildet. „Vor allem an Bildung hapert es überall. Die Politik hat bei diesem vielleicht wichtigsten Thema jahrelang geschlafen“, kritisiert Ostermann. Es mangele nicht nur an wirtschaftlicher Expertise, sondern oft sogar an Grundlagen wie schreiben, lesen, rechnen.
Vor allem aber fühlen sich die Unternehmer durch zu viel Bürokratie gehemmt. Knapp ein Drittel der Befragten der „Mittelstandsumfrage“ gab überzogene Vorschriften als gravierendste Einschränkung an. Mehr als jeder Vierte hält zu hohe Steuern und Abgaben für ein Hindernis. Ob Mittelstand oder Großindustrie, die Klagen sind die gleichen. Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft blicken mit großen Sorgen auf die Lage der Konjunktur. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, warnte unlängst: „Deutschland befindet sich wirtschaftlich auf der Verliererstraße, insbesondere im internationalen Vergleich.“ Und Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger legte nach: „Wenn wir eine der führenden Industrienationen bleiben wollen, müssen wir an vielen Stellschrauben drehen.“
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stagnierte im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorquartal. Die Aussichten für die kommenden Monate haben sich nach Einschätzung von Ökonomen zudem verschlechtert. „Die Konjunkturindikatoren zeigen leider alle nach unten, also komplett in die falsche Richtung“, erklärt Industriepräsident Russwurm. Laut dem aktuellen Wachstumsausblick des Internationalen Währungsfonds sei die deutsche Volkswirtschaft die einzige unter den 22 untersuchten Ländern und Regionen, in der das Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr zurückgehe. „Das muß ein Industrie- und Exportland, wie es Deutschland ist, alarmieren.“
Viele Wirtschaftsvertreter kritisieren zudem die übereilte Energiewende in Deutschland. Der im Alleingang durchgepeitschte Atomausstieg sei ein Fehler gewesen, heißt es oft. „Strom am Wirtschaftsstandort Deutschland muß günstiger werden“, fordert daher Peter Adrian, der Präsident der Industrie- und Handelskammer. Der Staat sollte zudem auf Stromsteuern verzichten sowie Umlagen und Entgelte möglichst komplett in den Bundeshaushalt übernehmen. „Die deutsche Wirtschaft braucht aktuell nichts so sehr wie Entlastung – weniger Vorschriften und nicht immer mehr“, mahnte Adrian.
Die Energiewende wurde übrigens von einer Koalition aus CDU und FDP vor rund zehn Jahren quasi im Handstreich durchgepeitscht. Im Juni 2011 stimmte eine überwältigende Mehrheit im Bundestag parteiübergreifend dann auch für den Atomausstieg. Christoph Ahlhaus hatte da gerade sein Amt als regierender Bürgermeister in Hamburg verloren.
Foto: Ein riesiges Erdloch auf der A20 bei Tribsees in Mecklenburg-Vorpommern, 2017: Der seit Jahren bestehende Fachkräftemangel ist nur ein Grund von vielen für die wirtschaftlichen Probleme