Schulden sind für Politiker so verführerisch wie Cannabis für Junkies: Sie ermöglichen zusätzliche Ausgaben, ohne daß es zunächst jemandem weh tut. Denn die Zinsen fallen nur nach und nach an und können sogar mit neuen Schulden finanziert werden. Getilgt werden muß erst am Sankt-Nimmerleins-Tag, wenn überhaupt. Allerdings ist das ein Schneeballsystem mit langfristig verheerenden Folgen, wie zahllose Staatspleiten nach ausufernden Schuldenorgien gezeigt haben. Aber solide Haushaltspolitik fällt schwer, speziell in Wahljahren. Deshalb wurde 2009 nach Schweizer Vorbild eine Schuldenbremse ins Grundgesetz eingefügt. Seitdem dürfen die Länder laut Artikel 109 überhaupt keine neuen Nettokredite mehr aufnehmen, der Bund nur noch im geringen Umfang von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Jahr. Damit haben sich die Politiker wie Odysseus quasi selbst die Hände gebunden. Nur im Fall einer Katastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation darf zeitlich begrenzt davon abgewichen werden.
Von diesem Schlupfloch machte man während der Corona-Krise mit der Errichtung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) Gebrauch. Ursprünglich sollte er nur das Überleben von Unternehmen während der Pandemie sichern. Aber schon 2022 wurde sein Zweck erweitert auf die Finanzierung der Strom- und Gaspreisbremsen. Das konnte man noch notdürftig rechtfertigen mit der akuten Energiepreiskrise, die allerdings inzwischen vorbei ist. Dennoch wurde das zusätzliche Volumen von ursprünglich 600 Milliarden Euro bisher nicht voll ausgeschöpft. Das weckt nun Begehrlichkeiten: Wirtschaftsminister Robert Habeck möchte das verbliebene Schuldenpotential für seine Industriestrompreis-Pläne nutzen, andere Ampelpolitiker für ein Konjunkturprogramm. Kai Wegner (CDU), seit April Regierender Bürgermeister von Berlin, will sogar die ganze Schuldenbremse aussetzen, um noch mehr Geld ausgeben zu können.
Daß linksgrüne Ökonomen wie Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dem zustimmen, ist klar. Aber auch Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, äußerte sich positiv: Die Schuldenbremse, die er einst unterstützt hatte, nennt er nun eine „Steuersenkungsbremse“. Man darf gespannt sein, wie lange bei dieser Konstellation der Widerstand von CDU und FDP gegen das Ansinnen halten wird. Immerhin müßte das Grundgesetz dafür geändert oder gebrochen werden.
Davor kann man nur warnen. Zwar hat zumindest Habecks Industriestrompreis noch einen Zusammenhang mit den Energiepreisen, aber von einer Notsituation im Sinne des Artikels 109 kann keine Rede mehr sein. Denn statt die Energiekosten tatsächlich zu senken, will Habeck sie nur herunter subventionieren. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium lehnt das Vorhaben daher ab. Auch juristisch ist ein Unterlaufen der Zweckbindung des WSF heikel, wie ein Gutachten aus dem Finanzministerium besagt. Vor allem aber dürfte eine Aushöhlung oder Aussetzung der Schuldenbremse schnell zur Gewohnheit werden. Bald würde die Politik das süße Gift der Kreditfinanzierung wieder in vollen Zügen genießen. Gerade von Politikern, die sonst bei jeder Gelegenheit Nachhaltigkeit predigen, darf man verlangen, daß sie davon die Finger lassen.
Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte bis 2020 VWL an der Wilhelms-Universität Münster.