Die organisierte Kriminalität in der südamerikanischen Andenrepublik Ecuador gerät zunehmend außer Kontrolle. Nachdem am 10. August der liberale Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio kurz nach einem Wahlkampfauftritt einem Attentat zum Opfer gefallen war, wurden bei weiteren Angriffen auf Politiker eine Abgeordnete der Nationalversammlung und mehrere Kommunal- und Regionalabgeordnete verletzt.
Das Land leidet seit Jahren unter gewalttätigen Zusammenstößen zwischen verschiedenen Drogenkartellen und staatlichen Sicherheitskräften. Der vor kurzem erschossene Fernando Villavicencio hatte sich zuvor energisch in der Öffentlichkeit gegen ein „Abrutschen“ Ecuadors in einen „Narco-Staat“ ausgesprochen und für den Fall seines Wahlsieges ein hartes Vorgehen gegen Drogenschmuggler und Kriminelle versprochen.
Der Todesschütze stirbt unter ungeklärten Umständen in Haft
Bei vielen Ecuadorianern hatte er damit offene Türen eingerannt. Doch nicht nur die äußerst gewaltbereiten Drogenkartelle, auch die politische Klasse im Land ist für den Normalbürger seit Jahrzehnten ein Problem. Im Korruptionswahrnehmungsindex 2022 von Transparency International belegt Ecuador von 180 gemessenen Staaten Platz 101, hinter Ländern wie Katar, Äthiopien und Jamaika.
Seit Mitte Mai steckt das Land im Wahlkampf, als Präsident Lasso Mitte Mai das Parlament aufgelöst hatte. Neuwahlen sollen am 20. August stattfinden. Der konservative Amtsinhaber kam mit der Auflösung des Parlaments einer Amtsenthebung wegen Korruptionsermittlungen zuvor, in Umfragen liegt die Kandidatin des sozialistischen Lagers knapp vor den Kandidaten bürgerlich-konservativer Parteien.
Villavicencio wurde vor dem Attentat als viertstärkster Einzelkandidat gehandelt und kam auf neun Prozent. An seiner Stelle wird seine Vize-Kandidatin Andrea González Náder bei der Wahl am 20. August antreten.
Tatsächlich gelten sowohl Bürokratie als auch Strafverfolgungsbehörden in Ecuador als von Kartellen unterwandert und hochgradig korrupt. Beobachter der Lage glauben nicht an eine ernsthafte Aufklärung des Anschlags. Der Attentäter starb unter ungeklärten Umständen innerhalb weniger Stunden in der Untersuchungshaft, sein Körper wies Spuren von Gewalteinwirkung und möglicher Folter auf.
Wenige Tage nach dem Angriff präsentierten Polizeibehörden eine Gruppe Kolumbianer als verantwortliche Bande hinter dem Anschlag. Doch eines der größten Kartelle Ecuadors – „Los Lobos“ („Die Wölfe“) – beanspruchte in einem Video den Angriff für sich und beschuldigte den toten Präsidentschaftskandidaten, „Geld genommen zu haben, ohne dafür die Gegenleistung zu erbringen“. Einzelne Gangmitglieder wandten sich jedoch an Pressevertreter und beschuldigten korrupte Polizeibeamte, „Los Lobos“ habe mit dem Anschlag „nichts zu tun“. Das Kartell gilt als hauptverantwortlicher Akteur hinter diversen Aufständen in den Gefängnissen des Landes und führt seit Jahren einen Feldzug gegen die Polizeibehörden Ecuadors.
Seit der Machtübergabe des sozialistischen Präsidenten Rafael Correa an seinen Nachfolger Guillermo Lasso hat sich die Sicherheitslage vor Ort drastisch verschlechtert, hinter den Kulissen werden dafür neben den Auswirkungen der Corona-Pandemie und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Schieflage auch geopolitische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China verantwortlich gemacht. Beide Großmächte verfolgen vor Ort wirtschaftliche und politische Interessen rund um Ölvorkommen im Amazonasgebiet. Neben Paraguay und Uruguay ist Ecuador der letzte konservativ regierte Staat des gesamten amerikanischen Kontinents.