© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/23 / 18. August 2023

Supermacht am Krückstock
China: Die Bevölkerung altert noch rascher als die westlicher Kontrahenten / Dem Reich der Mitte bleibt nur Digitalisierung und Technisierung als Ausweg
Mathias Pellack

China lädt wohl keine Millionen Einwanderer ein, um sein Bevölkerungsdefizit auszugleichen. Seit 2022 schrumpft die Bevölkerung im „Reich der Mitte“. Behörden berechnen über 800.000 weniger Geburten als Todesfälle. Die Kommunistische Partei in Peking ist zwar immer noch mit über 1,427 Milliarden Menschen Herr über die größte Bevölkerung, doch der Vorsprung zum Konkurrenten Indien könnte dieses Jahr passé sein.

Möglicherweise gebe es heute schon 100 Millionen weniger Chinesen, als die Partei behauptet, meint der geopolitische Analyst Peter Zeihan. Zählpannen sind dokumentiert. Die offizielle Geburtenrate beträgt 1,16 Kinder pro Frau, in den Großstädten sogar nur 0,7. Nur in Taiwan (1,11) und Korea (0,88) verjüngt sich der Stamm schneller, der die Alten trägt. In Deutschland ist die Geburtenrate bei 1,53 Kindern pro Frau (ohne Migrationshintergrund: über 1,3 Kinder pro Frau).

Das Problem im Reich der Mitte ist riesig und kann sich global auswirken. Denn China war in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Wirtschaftsmotor der Welt. „Wenn China niest, bekommt Deutschland einen Schnupfen“, titelte das Wirtschaftsmagazin Capital 2022 (siehe links).

Unter Mao waren viele Kinder und eine große Zahl an Untertanen ein Garant für nationale Stärke. Erst in den 1970er Jahren setzte sich die Sicht durch, daß ein schneller Aufstieg nur gelänge, wenn die Bevölkerungszahl im Land begrenzt werde. Chinas Bevölkerungspolitik begann nach dem „Großen Sprung nach vorn“ unter dem Slogan „später, länger, weniger“. Spätere Eheschließungen, längere Geburtenintervalle und weniger Kinder. Schnell genügte das den Planern in Peking nicht mehr. Man verankerte die berüchtigte Ein-Kind-Politik in den Köpfen. Umfragen im August 2022 ergaben, daß immer noch 57 Prozent der Chinesen nicht mehr als ein Kind wünschten, obwohl die Regelung längst durch zahllose Ausnahmen durchlöchert war. Weitere 40 Prozent wünschen sich gerade mal zwei Kinder. Der Hauptgrund, nicht mehr zu wollen, sind finanzielle Risiken und Ängste um die Arbeitsstelle.

Riesige Unterschiede innerhalb des Landes bieten Spaltpotential

Die 2015 einsetzende Zwei-Kind-Politik wird schon 2021 auf drei erhöht. Der Mutterschaftsurlaub wird verlängert, Kindergärten werden gefördert, und Kindergeld und Kinderzuschüsse werden gewährt. Bisher schlägt nichts davon an. China besitzt auch keine starken sozialen Sicherheitsnetze, um die rapide Alterung abzufangen. Ebenso ist die Bevölkerung nicht wohlhabend. Das Pro-Kopf-Einkommen ist bedeutend geringer als in Westeuropa, den USA oder Japan und Korea.

Der Altersdurchschnitt liegt bei 37,9 Jahren und hat sich seit 1970 verdoppelt. Statistiker erwarten ein Durchschnittsalter von fast 50 Jahren im Jahr 2050. Schon heute ist jeder fünfte Chinese in Rente, die für Männer mit 60 und Frauen mit 55 Jahren beginnt. Für Fabrikarbeiterinnen sogar mit dem 50. Geburtstag. Bereits 2030 werde es mehr Rentner als Arbeiter geben. Bis 2050 aber, so lautet das Versprechen der Kommunistischen Partei, solle das Reich der Mitte eine sozialistische Weltmacht sein. Dann will es überall auf Spitzenplätzen stehen, „politisch, kulturell, ethisch, sozial und ökologisch“. In den Worten des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, des Architekten dieser Strategie, soll die Gesellschaft Chinas 2035 „dann voller Vitalität, Harmonie und Ordnung“ sein, um zum endgültigen Sprung an die Spitze der Welt anzusetzten. Bis dahin will das Land „globaler Führer der Innovation“ sein und die immer noch große soziale Ungleichheit innerhalb des Landes ausgleichen. Erst 2020 hatte China zumindest die absolute Armut als gesellschaftliches Phänomen eigenen Angaben zufolge besiegt.

Hinsichtlich der Wirtschaftskraft hat das Land inzwischen stark aufgeholt und ist als Ganzes gesehen die zweitgrößte Volkswirtschaft mit über 18 Billionen US-Dollar BIP pro Jahr. Doch verrechnet mit der großen Zahl an Bürgern bleibt nur ein Platz im Mittelfeld: 64. unter den 192 Staaten der Erde. Die Ungleichverteilung bleibt krass. Städtische Haushalte erwirtschaften mit etwa 73.615 Yuan (10.163 Dollar) doppelt so viel Einkommen wie ländliche mit 33.195 Yuan (4.583 Dollar). Auch zwischen den Städten gibt es riesige Unterschiede. Suzhou, eine Stadt mit 13 Millionen Einwohnern nahe Schanghai, erreichte schon 2014 ein durchschnittliches BIP pro Kopf, das deutsche Verhältnisse übertrifft. Durchschnittlich 377.379 Yuan entsprechen 52.020 Dollar. Deutsche Bürger erwirtschafteten nur 48.023 Dollar.

All das ist auch der jahrzehntelangen Ein-Kind-Politik geschuldet, die einer stabileren Wirtschaft und einer besseren Versorgungslage der Bevölkerung zuträglich war. Trotz der geringen Zahl an Nachwuchs gibt es bisher eine hohe Arbeitslosenzahl unten den jungen Chinesen. Im Mai dieses Jahres waren 20,8 Prozent der Städter im Alter von 16 bis 24 Jahren ohne Job. Für die Landbevölkerung gibt es keine offiziellen Zahlen. Auch junge Chinesen streben eher ein akademisches Leben an, anstatt Fabrikarbeit zu leisten oder schlechter bezahlte Handwerkeraufgaben zu erledigen. Das Mercator Institut für China-Studien warnt bereits 2015: „Ausbildung am Bedarf vorbei: Fachkräftemangel bedroht Chinas Aufstieg zur Industrie-Supermacht.“ Ähnlich wie für Deutschland heißt es dort: „Während Universitätsabsolventen keine geeigneten Arbeitsplätze finden, zeichnet sich bereits heute in vielen Industriesektoren ein kritischer Fachkräftemangel ab.“

Die Probleme sucht China mit einer rapiden Digitalisierung zu begrenzen. Außerdem soll die Ausbildung am Arbeitsmarkt gestärkt werden. Das klingt für uns vertraut. Die große Kraft der einstigen Werkbank der Welt schrumpft zusehends. Vielleicht gelingt der Aufstieg zu einem Land der Hightech-Produktion mit hohen Gewinnspannen. Das aber verstärkt die Konkurrenz mit Europa und den USA.