Von der globalen Finanzkrise 2008 bis zur Corona-Pandemie 2020 war Chinas Volkswirtschaft weltweit der größte Wachstumstreiber. Das Reich der Mitte ist für viele andere Länder der größte Handelspartner, so auch für Deutschland. Deshalb waren mit der Öffnung nach Corona große Hoffnungen verbunden. Das Jahr begann erwartungsgemäß. Aber zunehmend zeigen sich Probleme: Die chinesischen Exporte sanken im Juli im Jahresvergleich um 14,5 Prozent. Das Wirtschaftswachstum von 6,3 Prozent im zweiten Quartal war vor allem der Erholung nach den drastischen Lockdowns geschuldet. Die chinesische Bauwirtschaft hat sich angewöhnt, ihre Tätigkeit mit Krediten ihrer Kunden zu finanzieren. Sie verkaufte unfertige Wohnungen und bestritt so den Weiterbau angefangener Projekte mit den nächsten Verkäufen. Solange Wohnungen gut verkäuflich waren und die Preise stiegen, lief das gut.
Nun rutscht das Riesenreich in eine Deflation. Im Durchschnitt werden alle Waren billiger. Was wünschenswert klingt, birgt ein Risiko. Die reduzierte Nachfrage bei einigen Firmen führt dazu, daß Wohnungen unfertig bleiben. Geht die Nachfrage weiter zurück, stellen sie sich auf diese Lage ein und warten auch mit anderen Anschaffungen. Die Nachfrage sinkt, Fabriken produzieren weniger, Arbeitnehmer können entlassen werden. Und wer keinen Lohn bekommt, kauft wiederum weniger ein. Die Deflationsspirale dreht sich.
Staatlicher Druck und Finanzierungshilfen sorgen zwar dafür, daß die meisten begonnenen Bauprojekte vollendet werden, aber gegenwärtig werden zu wenig neue Projekte begonnen. Weil das Gewicht der Bauwirtschaft bei circa 30 Prozent der chinesischen Wirtschaftstätigkeit liegt, ist diese Aussicht eine Wachstums- und Beschäftigungsbremse. Chinesische Lokalverwaltungen finanzieren sich durch Baulandverkäufe, daher herrscht Ebbe in deren Kassen. Damit entsteht ein Dilemma: Sollen sie die Nachfrage stützen? Oder ist es wichtiger, die Finanzen zu konsolidieren?
Die Nachfrage stützen oder lieber die Finanzen konsolidieren?
Bereits der Zahlungsausfall von Evergrande Ende 2021 sendete Schockwellen in die Weltwirtschaft. Nun droht mit Country Garden ein Immobilien-Projektentwickler, der viermal so viele Projekte hat, pleite zu gehen. Investoren oder Kleinanleger, die ihre Rente aufbessern wollten, hoffen auf Hilfe aus Peking. Das ist auch für die deutsche Wirtschaft relevant. China stellt 2021 mit fast zwölf Prozent unserer Importe unseren größten Zulieferer und mit 7,5 immerhin den zweitgrößten Exportmarkt.
Das dritte aktuelle Problem ist die Arbeitslosigkeit von 5,2 Prozent. Die Quote liegt zwischen der in den USA und der im Euroraum, aber sie konzentriert sich auf die städtische Jugend und die Hochschulabsolventen. Peking hat entweder zu viel oder in den falschen Fächern ausgebildet. Weil die Studenten – zuletzt 1989 – Träger von Protestbewegungen gegen die KP-Regierung waren, ist die Jugendarbeitslosigkeit für die Herrschenden besonders heikel.
Hinzu kommt, daß der Konsum in China noch lange nicht die Rolle spielt wie in Europa oder Amerika. Der chinesische Sozialstaat sichert die Bürger nicht hinreichend gegen Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und andere Lebensrisiken ab. Sparen und Investitionen sind viel wichtiger. In der Vergangenheit hat der Staat gewaltig in die Eisenbahn, in Autobahnen, Flugplätze und Häfen investiert. Doch das traditionelle Instrument, durch Infrastrukturinvestitionen Wachstumsimpulse zu setzen, funktioniert aus zwei Gründen immer schlechter: erstens der Schwierigkeit, gute Projekte zu finden, zweitens sie zu finanzieren. Chinas Finanzen sind im Laufe der Zeit immer weniger solide geworden. Letzteres gilt fast überall auch im Westen.
In Anbetracht der Summe der aktuellen und der langfristig strukturellen Probleme kann man verstehen, daß immer mehr Beobachter der chinesischen Wirtschaft deren Zukunft pessimistisch sehen. Wer sich die jährlichen Wachstumsraten des vergangenen Jahrzehnts und Erwartungen des Internationalen Währungsfonds bis 2028 ansieht, der sieht von 2012 bis 2028 einen fast kontinuierlichen Abfall von knapp acht Prozent (2012), über tiefe Einbrüche 2020 und 2022 mit einer kräftigen Erholung im Jahr dazwischen, bis hin zu 3,4 Prozent am Ende des Projektionszeitraums.
US-Beobachter sprechen vom „Peak China“. Die chinesische Wirtschaft dürfte in ihren Augen nicht weiter an weltwirtschaftlichem Gewicht gewinnen und die chinesische Volkswirtschaft trotz einer über viermal so großen Bevölkerung vielleicht nie viel größer als die US-amerikanische werden. Diese Prognose hat allerdings nicht dazu geführt, daß Amerika auf industriepolitische und protektionistische Maßnahmen verzichtet, um Chinas Wachstum zu verlangsamen. Das Verhindern der Lieferung von Hochleistungsschaltkreisen (auch aus Taiwan und Südkorea) ist dabei nur die sichtbarste Maßnahme.
Auch das weltwirtschaftliche Umfeld wird den Chinesen künftig kaum helfen. Aber ein kriselndes oder stagnierendes China wirf auch für den Rest der Welt Probleme auf, in Deutschland etwa für die Auto- oder Chemieindustrie. Diese Auflistung von Schwachpunkten und Problemen von Chinas Volkswirtschaft muß nicht bedeuten, daß es mit dem Land schnell bergab geht, aber man darf sich weder in Peking noch im Ausland darauf verlassen, daß Chinas wirtschaftliche Erfolgsgeschichte auch nur annähernd mit der vertrauten Geschwindigkeit weitergeht – vor allem dann, wenn China versuchen sollte, die Probleme der Zukunft wieder mehr mit planwirtschaftlichen Instrumenten zu lösen. Daß gleichzeitig auch im Westen Industriepolitik und Protektionismus an Popularität gewinnen, wird weder den Chinesen noch uns helfen.
Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Politikwissenschaftler und Soziologe, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. 1998 gründete er die Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft mit.