© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/23 / 18. August 2023

Solidarität war gestern
Linke: Der Rückzug der Fraktionsvorsitzenden verschärft die Krise in der zertstrittenen Partei / Sahra Wagenknecht bleibt vage
Jörg Kürschner

Ist die Linke noch zu retten? Bis zum Jahresende will ihre Reizfigur Sahra Wagenknecht entscheiden, ob sie eine eigene Partei gründet. Zuvor stehen wichtige Termine im Kalender der SED-Nachfolger. Ende August Klausur der Bundestagsfraktion, Anfang September Vorstandsneuwahl, im Oktober Landtagswahlen in Hessen und Bayern, Mitte November Bundesparteitag in Augsburg. Eine Spaltung der Partei mit Austritten aus der Bundestagsfraktion würde deren Ende bedeuten. Um dieses Szenario abzuwenden, könnte es zusätzlich noch einen Parteikonvent geben.

Der kürzliche Rückzug von Fraktionschefin Amira Mohamed Ali (JF 33/23) hat die inhaltlichen Differenzen und persönlichen Verwerfungen ein weiteres Mal deutlich gemacht. Ihr Schritt wird den „Niedergang der Linken wohl beschleunigen“, kommentierte der einstige Parteichef Klaus Ernst verständnisvoll. Distanziert reagierte dagegen Amtsnachfolger Bernd Riexinger. „Klar muß auch sein, daß eine Fraktionsvorsitzende nicht akzeptieren darf, daß aus der eigenen Partei heraus eine Konkurrenzpartei gegründet wird.“ Zu Wochenbeginn riet er, ohne Wagenknecht zu planen. „Ein Teil der Fraktion sitzt auf gepackten Koffern.“ Mohamed Ali zählt zum Wagenknecht-Flügel, wie aus ihrer Rückzugsbegründung hervorgeht. Entscheidend sei der einstimmige Beschluß des Parteivorstands Mitte Juni gewesen, „die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht“.

Neben persönlichen Animositäten sind tiefgreifende inhaltliche Differenzen die Ursache für die drohende Spaltung der Linken. Die Noch-Genossin plädiert ähnlich wie die AfD für einen starken Nationalstaat, der mehr bieten müsse als eine Mindestsicherung. Mehrfach wandte sich die Linken-Ikone gegen eine Politik der offenen Grenzen, kritisierte die Flüchtlingspolitik von Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) als „planlos“. Von „Parteifreunden“ wurde der Ostdeutschen eine geistige Nähe zur AfD vorgeworfen. Als Wagenknecht im Bundestag von einem angeblichen „Wirtschaftskrieg gegen Rußland“ sprach, applaudierten AfD-Parlamentarier. Die Grünen nennt sie „die gefährlichste Partei im Bundestag“.

Der Parteivorstand sucht hingegen die Nähe zur Klimabewegung. Die Linke sei beim Klimaschutz „radikaler als die Grünen“, brüstete sich Co-Parteichef Martin Schirdewan. Zusammen mit Wissler schlug er die parteilose Klima- und Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete als eine der Spitzenkandidaten für die Europawahl vor. Eine offene Kampfansage an das Wagenknecht-Lager, die vor einer „Grünisierung“ der Linken warnt. 

Ihre Nominierung an den Gremien vorbei sei ein „Geschenk an die AfD“, hieß es in der Fraktion, von einem „Wählerschreck“ war sogar die Rede. Eine Art Anti-Wagenknecht, auch äußerlich in Kleidung und Stil, die prompt eine Neuausrichtung der Linken zu einer „ökologischen Klassenpolitik“ mit „klarer antirassistischer Haltung verlangte. Bekannt geworden war sie 2019, als sie mit einem Flüchtlingsschiff die italienische Insel Lampedusa ansteuerte – trotz eines Verbots der Behörden.

„Politische Laufbahn nicht mit Flop abschließen“

Für Wagenknecht sind Rackete und Co. Lifestyle-Linke, die in ihrer „hippen Großstadtblase“ kein Gespür für die Probleme armer Menschen haben. Klaus Ernst, langjähriger Gewerkschafter, bringt es auf den Punkt: „Es gibt Leute in der Partei, deren Kontakt zur Arbeit sich darauf beschränkt, daß sie mal als Schüler oder Student ein Regal bei Aldi eingeräumt haben.“

Linken-Urgestein Gregor Gysi gehört zu den wenigen, die lagerübergreifend Kontakt zu Wagenknecht haben. Er versucht Brücken zu bauen, sie von einer Parteineugründung abzuhalten. Nicht nur weil das frühere SED-Mitglied sein Lebenswerk bedroht sieht. Wenn nur drei Wagenknecht-Fans die Bundestagsfraktion verlassen, wird sie heruntergestuft zu einer parlamentarischen Gruppe. Mit einschneidenden Folgen. Weniger Redezeit, weniger Geld, weniger Mitarbeiter, weniger Einfluß. Ob Wagenknecht-Unterstützer oder Gegner, die linke Konservative läßt sich nicht in die Karten blicken. Nur so viel: „Ich möchte meine politische Laufbahn nicht mit einem Flop abschließen.“ Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa, Hermann Binkert, rechnet mit einer „Wagenknecht-Liste“ bei der Europawahl im Juni 2024. „Diese Wahl ist auch ein guter Stimmungstest, nicht nur weil die Fünf-Prozent-Hürde nicht gilt, sondern auch, weil mancher Wähler der Europawahl eine geringere Bedeutung beimißt und deshalb eher zum Experimentieren bereit ist. Nach der aktuellen Stimmungslage könne eine solche Liste mit einem zweistelligen Ergebnis rechnen, betonte er gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Wer glaube, daß nur Linke und AfD Stimmen an eine Wagenknecht-Liste verlieren würden, irre. Auch die anderen Parteien, Bündnis 90/Die Grünen vielleicht ausgenommen, könnten Wähler verlieren. Plötzlich würde die AfD zur „Altpartei“.

Gegen eine Wagenknecht-Liste spricht, daß die Ex-Kommunistin vor nicht langer Zeit als linke Integrationsfigur krachend gescheitert war. Zusammen mit ihrem Mann Oskar Lafontaine, einst SPD-später Linken-Parteichef, seit März 2022 parteilos, hatte sie 2018 die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gegründet, um linke Wähler zu erreichen, die sich von den klassischen Parteien abgewandt haben. Ein Jahr später gab sie auf. Bei der Bundestagswahl 2021 kam sie als Listenführerin in Nordrhein-Westfalen auf mickrige 3,2 Prozent.

Vielleicht ist die 54jährige nur eine hoch intelligente Medienpersönlichkeit, rhetorisch begabt zwar und charismatisch herausragend in einer als graumäusig wahrgenommenen Berliner Politikerkaste? Ein selten gewordener politischer Charakterkopf, der einst die vom Verfassungsschutz beobachtete „Kommunistische Plattform“ anführte, DDR-Mauerbauer Walter Ulbricht (SED) verehrte, später Ludwig Erhard, den Vater der sozialen Marktwirtschaft, „zu Ende denken wollte“ und mittlerweile als erfolgreiche Buchautorin neben ihren Abgeordnetendiäten hohe sechsstellige Honorare einstreicht. Sahra Wagenknecht hat viele Gesichter.