© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

Eine Entkrampfung hat sich nicht durchgesetzt
Michael Wolffsohn hat seine Analyse des deutsch-jüdisch-israelischen Verhältnisses neu aufgelegt und präsentiert ein resignatives Fazit
Konrad Löw

Wer könnte qualifizierter sein, die deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen ebenso umfassend wie sachkundig und anteilnahmsvoll abzuhandeln wie der 1947 in Tel Aviv geborene deutsch-israelische Patriot und Bekenner Wolffsohn, der hier wie dort viele Jahre gelebt und auf diesen Feldern geforscht hat?

Das Buch ist eine Neuerscheinung und gleichzeitig die Überarbeitung der Erst- und Zweitfassung von 1988 und 1993. Die Ergänzungen sind blau hervorgehoben. So heißt es im Vorwort des Jahres 1988, es sei von durchaus Neuem und Erfreulichem zu berichten. In Blau lesen wir dementgegen: „Das zarte Pflänzchen des damals Neuen und Erfreulichen, die Möglichkeit einer Entkrampfung, hat sich nicht durchgesetzt …“

Der Text ist in zehn Hauptkapitel gegliedert, deren erstes die Frage beantwortet: „Ohne Hitler kein Israel?“ Seine Überzeugung: „Der Mörder der Juden war nicht der Geburtshelfer des jüdischen Staates.“ Wer das Gegenteil vertritt, huldigt einem kaum zu überbietenden Paradoxon. Auch wenn Auschwitz nicht ursächlich war, Anstöße sind sicher von ihm ausgegangen.

Eine Kollektivschuldthese lehnt Wolffsohn ausdrücklich ab

Es folgen: „Etappen deutsch-jüdisch-israelischer Geschichtspolitik“, „Zur politischen Funktion des Holocaust“, „Deutsch-israelische Rollenwechsel“ bis zur Würdigung von Persönlichkeiten, die die genannten Beziehungen gestaltet haben, so von  Adenauer und Ben-Gurion. Gleich zu Beginn wird daran erinnert, daß die USA keinen Druck auf die junge Bundesrepublik in Sachen Wiedergutmachung an Israel ausgeübt haben. Ein Schuldbekenntnis des bundesdeutschen Regierungschefs erfolgte am 27. September 1951 vor dem Bundestag. „Von deutscher Kollektivschuld war darin aber nicht die Rede. Um jedes Wort dieser als Adenauer-Initiative verpackten Erklärung hatten Israelis und Deutsche zuvor wochenlang hinter den Kulissen gerungen“, eine Tatsache, die allen Parlamentariern ins Gedächtnis gerufen werden sollte, die sich gegenteilige Anschuldigungen bis in die Gegenwart hinein beifallspendend anhören.

Machen wir gleich einen Sprung in die Gegenwart. Schon eingangs wurde erwähnt, daß nach Wolffsohn das gegenseitige Verstehen nach wie vor defizitär sei. „Nie wieder Täter“ sagen „die“ Deutschen. „Nie wieder Opfer!“ sagen „die“ Juden. Die Folge: „Sie können einander nicht finden.“ Die Aggression Putins gegen die Ukraine könnte, so der Autor, auf deutscher Seite die Pazifisten nachdenklich machen. Ein Hoffnungsschimmer am Horizont?

Der Haupttitel: „Ewige Schuld?“ wird in dem stattlichen Buch kaum thematisiert. Eine Kollektivschuld der unter Hitler lebenden Deutschen lehnt der Autor ausdrücklich ab, auch jener Juden, die der Vernichtung entgangen sind und sich mit solchen Skrupeln herumplagen wie: Warum ist der Todesengel gerade an mir vorübergegangen (Survival Guilt)? Wer sich mit derlei abquält, hätte mehr Beachtung verdient. Da „ewige Schuld“ abwegig ist, sollte bei einer Neuauflage eine Umbenennung des Buches ins Auge gefaßt werden. 

„Die Tragödie Israels besteht (…) darin, daß es ohne ultranationalistische Eiferer vielleicht gar nicht überleben kann und allein mit Kosmopolitismus schon gar nicht.“ Dieses Dilemma, das der Autor gegen Ende skizziert, kann Mitleid wecken, sicher aber die Neigung der Leser, dem Stoff auch fernerhin ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Leider fehlen nach wie vor die üblichen Register. Literaturhinweise gibt es dafür reichlich.

Michael Wolffsohn: Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen. Verlag Langen Müller, München 2023, broschiert, 366 Seiten, 24 Euro