Die Auseinandersetzung mit der „verhängnisvollen Wirkungsgeschichte christlicher Judenfeindschaft“ sowie der Rolle christlicher Kirchen im Kontext des Völkermords an den Juden Europas gehört für Christian Wiese zum Fundament des christlich-jüdischen Dialogs seit 1945. Doch ist für den Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Uni Frankfurt/M. auch achtzig Jahre nach dem Holocaust der Prozeß der „Erhellung christlicher Schuldgeschichte“ nicht abgeschlossen. Die katholische und protestantische Kirche stünden trotz ihrer schmerzhaften Bemühungen um Aufarbeitung stets in der Gefahr, in Theologie und Praxis in überlieferte judenfeindliche Stereotype zurückzufallen (Evangelische Theologie, 2/2023). Um dem vorzubauen, gelte es, im Zusammenwirken von Kirchenhistorikern, Antisemitismus- und Holocaust-Forschern das Verhältnis zwischen den vom Antijudaismus und Antisemitismus infizierten Theologien, die selbst bei Vertretern der regimefeindlichen protestantischen „Bekennenden Kirche“ zu erkennen seien, und der NS-Ideologie noch detaillierter aufzuklären. In Aufdeckung ihrer mentalitätsbildenden Kultur des antijüdischen Ressentiments glaubt Wiese den Schlüssel für die „schockierende schweigende Preisgabe“ jüdischer Mitbürger an die NS-Judenpolitik zu finden.