© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

„Das Staatsinteresse in den Vordergrund stellen“
Im Herbst 1923 führte Gustav Stresemann in seiner kurzen Zeit als Reichskanzler die Weimarer Republik durch ihre größte Krise
Erik Lommatzsch

Die Prioritäten standen für Gustav Stresemann nicht in Frage. Im Mai 1923 hatte er formuliert: „Daß Reich und Volk erhalten bleibt, ist notwendig, daß die Substanz der Einzelwirtschaft sich erhält, ist nicht notwendig (…) Wir haben das Staatsinteresse in den Vordergrund zu stellen.“ Stresemann, Vorsitzender der in der Öffentlichkeit stark mit seiner Person verbundenen Deutschen Volkspartei (DVP), zählt zu den Vernunftrepublikanern, die sich nach dem Untergang des Kaiserreichs in den Dienst des demokratischen Staates stellten. Er selbst betrachtete sich als Verfechter von „nationaler Realpolitik“. 

Auf eine Große Koalition aus DVP, Zentrum, Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und SPD hatte er frühzeitig hingearbeitet. Bereits zweimal als Reichskanzler im Gespräch, wurde er schließlich am 13. August 1923 zum Regierungschef ernannt, zugleich übernahm er das Auswärtige Amt. Die fragile Kanzlerschaft sollte nur reichlich 100 Tage währen. Gleich zu Anfang versagten ihm Teile der SPD sowie seiner eigenen Partei das Vertrauen. Gegner innerhalb der DVP wie Hugo Stinnes, die vor allem Wirtschaftsinteressen vertraten, etwa eine Erhöhung der Arbeitszeit auf dem Verordnungsweg anstrebten und gern mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) koaliert hätten, fielen Stresemann mehrfach in den Rücken. Die Große Koalition zerbrach Anfang Oktober, konnte aber noch einmal neu formiert werden.

Stresemann, der zunächst „unbändige Energie“ ausgestrahlt haben soll, führte die Republik in der Zeit ihrer schwersten Krise. Unklar war das Überdauern der parlamentarischen Staatsform, vor allem aber zeichnete sich das Auseinanderbrechen des Deutschen Reiches ab. Beides blieb erhalten. Zum Ende der kurzen Regierungszeit Stresemanns war eine Reihe der inneren, eng miteinander verwobenen Probleme und Konflikte gebannt.

Stresemann blieb bis zu seinem Tod 1929 Außenminister 

Als große Hypothek stellte sich der Ruhrkampf dar. Der passive Widerstand, den die dortige Bevölkerung mit Unterstützung der Reichsregierung seit Januar gegen die französische und belgische Besetzung leistete, war materiell nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Finanzierung hatte dazu beigetragen, die Inflation in astronomische Höhen zu treiben. Am 26. September wurde der Ruhrkampf bedingungslos abgebrochen, die Reichsregierung betonte die „bittere Notwendigkeit“. Ein von Stresemann erhoffter „ehrenhafter Ausgang“ war von Frankreich verweigert worden, auch danach waren die Besatzer nicht zu Verhandlungen über die Rückgabe der beschlagnahmten „produktiven Pfänder“ bereit. Ministerpräsident Raymond Poincaré beharrte auf der unerfüllbaren Forderung, daß zunächst die Reparationszahlungen wieder aufgenommen werden müßten. 

Die instabile Lage, so die Überlegung in Paris, würde dazu führen, daß sich die besetzten Gebiete vom Reich lösen und Frankreich annähern. Ebenso unterstützten Franzosen und Belgier Separatistengruppen im Rheinland, die seit Mitte Oktober eine Reihe von Stadt- und Gemeindeverwaltungen unter ihre Kontrolle brachten, mit dem Ziel einer Abspaltung. Der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer spielte hier eine später gern wegdiskutierte Rolle. Der rheinische Separatismus scheiterte schließlich an der Bevölkerung. Das Ruhrgebiet blieb zwar noch bis 1925 besetzt, eine Annäherung an Frankreich erfolgte jedoch nicht.

Noch am 26. September 1923 hatte die bayerische Staatsregierung aus Protest gegen den Abbruch des Ruhrkampfes den Ausnahmezustand verhängt. Weisungen aus Berlin wurden nicht befolgt. Die Reichswehrführung weigerte sich, gegen Bayern vorzugehen. Für die Reichsregierung entspannte sich die Lage etwas, als Generalsstaatskommissar Gustav von Kahr am 8./9. November in München nicht, wie von Hitler und Ludendorff erwartet, deren Putsch unterstützte, sondern sich ihnen entgegenstellte. 

Ein Putsch der „Schwarzen Reichswehr“ in Küstrin wurde niedergeschlagen. In Sachsen hatte der sozialdemokratische Ministerpräsident Erich Zeigner am 10. Oktober ein Kabinett unter Einschluß der KPD gebildet. Die Reichsregierung hielt ein Vorgehen gegen Minister, deren Partei den Staat offen bekämpfte, für geboten. Die Regierung Zeigner wurde am 29. Oktober abgesetzt, Reichswehreinheiten sicherten die Dresdner Ministerien. Die Lage war schnell beruhigt, die Reichsexekution gegen Sachsen hatte aber zur Folge, daß die SPD-Minister das Kabinett Stresemann verließen. Zwar lehnte man die KPD hier auch ab, verlangte aber, gegen Bayern ebenso vorzugehen wie gegen Sachsen, was der Kanzler ablehnte.

Stresemann stürzte schließlich am 23. November 1923, ein von ihm beantragtes Vertrauensvotum fiel zu seinen Ungunsten aus. Er selbst zog eine äußerst positive Bilanz seiner Kanzlerschaft. Die Etablierung der Rentenbank, die Einführung der Rentenmark zum 15. November und das damit verbundene Ende der Inflation gehören zu den großen Erfolgen seiner Regierung. Zudem war die Währungsstabilisierung ohne fremde Kapitalhilfe erfolgt. Von erheblicher Bedeutung war auch, daß sich Frankreich am 24. Oktober unter Umständen mit einer Überprüfung der Reparationsfrage einverstanden erklärt hatte. Eher unabhängig von Stresemann hatten sich Pläne zerschlagen, seine Regierung durch ein parlamentsunabhängiges „Direktorium“ mit Ausnahmevollmachten zu ersetzen, ein Vorhaben, das auch von Reichspräsident Friedrich Ebert unterstützt wurde.

Stresemann blieb bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929 deutscher Außenminister. Charakteristisch wurde sein maßvolles, seiner Ansicht nach die Möglichkeiten ausschöpfendes Agieren, das ihm allerdings auch den Vorwurf einbrachte, als „Erfüllungspolitiker“ zu handeln.