© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

Auch wenn uns die neue digitale Welt viele Möglichkeiten eröffnet, bleiben unsere Körper im Hier und Jetzt
Geographie ist Schicksal
Felix Dirsch

Auf die Frage nach den größten geopolitischen Herausforderungen für Deutschland antwortete unlängst der ehemalige Bundesverteidigungsminister Franz Joseph Jung politisch korrekt wie nur möglich, diese sehe er „in der Klimapolitik“. Geopolitische Betrachtungsweisen sind für Vertreter deutscher Eliten nach 1945 nur akzeptabel, wenn man sie mit neuen Inhalten füllt, die mit den herkömmlichen höchstens am Rande zu tun haben.

Fortschritte in technisch-kommunikativen Bereichen machen es immer leichter, Räume zu überwinden. Konstantin Fechter hat dies auch für das konservative Lager in dem Artikel „Macht hat recht“ (Cato 2/2023) unterstrichen: Virtuelle Realitäten, Flugzeugträger, die Finanzgeschäfte der Wall Street, weltraumgestützte Laser und Netflix operieren so ortsungebunden wie die Digitalmoderne als Ganzes. KI-Pioniere entwerfen Algorithmen für Überintelligenzen und Übermenschen. Diese haben mit dem alten Adam ebensowenig zu tun wie die transhumanistische Weltanschauung, die ein weltweit gefeierter Autor wie Yuval Noah Harari vor diesem Hintergrund konzipiert.

Sozial- und kulturwissenschaftliche Publikationen untersuchen in größerer Zahl die Auswirkungen des modernisierungsbedingten „Verschwindens der Räume“ (Paul Virilio). Der Soziologe Niklas Luhmann spricht da von der Bagatellisierung von Orten durch moderne Medien.

Die augenblickliche Renaissance territorialgebundener Strategien scheint jenen recht zu geben, die vor solchen vermeintlichen Rückschlägen stets gewarnt haben. Den Ukrainekrieg bezeichnet man gern als „Lehrstunde der Geopolitik“ (Hans Neuhoff). Sprachrohre des linksliberalen Establishments beklagen die „gefährliche Beharrlichkeit geopolitischer Kategorien“ (Franziska Davies). Das russische Vorgehen gegen das „nahe Ausland“ wird vielfach als Kompensation von Verlusterfahrungen, hauptsächlich infolge der Implosion des Ostblocks, gedeutet. Sie wurden durch das sukzessive Vordringen von Nato-Staaten gen Osten wohl noch verstärkt. Wladimir Putins Wort vom Zusammenbruch der Sowjetunion als „größter geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ wird geradezu inflationär zitiert.

Zentrale geopolitische Konstanten sind weiterhin aus angloamerikanischer Perspektive zu erkennen: Die im Grunde genommen vage „Herzland“-Theorie des Geographen Halford J. Mackinder, die von Zbigniew Brzezinski und George Friedman in den letzten Jahrzehnten erneuert wurde, formuliert ein zentrales Ziel: nämlich einen Keil zwischen Rußland und Deutschland zu treiben. Die politisch-wirtschaftliche Gesamtorganisation der weiten eurasischen Räume soll auf diese Weise verhindert werden, um die angloamerikanische Vorherrschaft auszubauen und zu sichern. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines 2022 paßt – jedenfalls in ihren Konsequenzen – zu diesem operativen Großkonzept.

Es ist sicherlich populär, geopolitisch fundierte Argumentationen als reaktionäres Dekor zur Begründung roher Gewalt zu sehen. Jüngst wurde Geopolitik sogar als Form der „Entmenschlichung der Politik“ (Maxim Trudolyukow) herausgestellt, weil humane Entscheidungen vor diesem Hintergrund angeblich von praktisch unbeeinflußbaren Determinanten abhängig gemacht würden. Als unstrittig dürfte aber gelten, daß die Eskalation des Konflikts im Februar 2022 nicht getrennt wahrgenommen werden darf von einem wesentlichen geographischen Faktor: der Spaltung der Ukraine in einen West- und einen Ostteil. Letzterer, speziell der Donbass, tendiert politisch, kulturell und religiös eher gen Rußland und wurde von Kiew vor der Ausweitung des Krieges massiv militärisch wie zivil bekämpft. In mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht ist es nicht gleichgültig, ob die Vorfahren der heutigen ukrainischen Bevölkerung im ehemaligen Habsburgerreich oder im zaristischen Rußland lebten.

Die Aufdringlichkeit der geopolitischen Problematik wird weiterhin beispielhaft im China-Taiwan-Konflikt, im Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan und im chinesischen Mammutprojekt „Neue Seidenstraße“ deutlich. Wie ist diese Beharrlichkeit angeblich obsoleter Denkkategorien zu erklären, die den Grundtendenzen moderner Entwicklungen wenigstens auf den ersten Blick widerstreben?

Die gesteigerte raumüberwindende Kraft kommunikativ-technischer Mittel, die häufig gegen die „Macht der Geographie“ ins Feld geführt wird, ändert nichts daran, daß solche Instrumente von machtorientierten Menschen genutzt werden. So sehr sich die Machträume durch entsprechende Mittel beinahe ins Unendliche vergrößert haben, wandeln sich anthropologische Konstanten, die den Menschen auszeichnen, höchstens in unvorstellbar langen Zeiträumen. Der Mensch zeichnet sich vor allem durch seinen Körper als erdgebundenes Wesen aus. Diese Grundgegebenheit beeinflußt auch den leibgebundenen Willen zur Macht. Der Leib ist in den Raum eingelassen. Dadurch ist der Mensch naturgesetzlich an einem Ort im Hier und Jetzt anzusiedeln, den er aber anders als das Tier überwinden kann. Nicht nur ein Protagonist der großen anthropologischen Kontroverse im Deutschland der 1920er Jahre wie Helmuth Plessner, sondern auch ein jüngerer phänomenologisch ausgerichteter Autor wie der Franzose Maurice Merleau-Ponty knüpft an derart fundamentale Fakten an. Die beiden Philosophen gelten neben Hannah Arendt als wichtige Vertreter des Versuchs einer phänomenologischen Rekonstruktion des öffentlichen Raumes. Sie verbinden wenn auch auf verschiedene Weise Mensch, Leib, Macht und Raum miteinander. Dieses Knäuel ist nicht zu entwirren.

Alle Ordnungen des Politischen, der Macht und des Raumes sind in der einen oder anderen Weise Ordnungen des Körpers. Pierre Bourdieu hat von der „Somatisierung des Raumes“ gesprochen. Der von Michel Foucault popularisierte Begriff „Biopolitik“ hat seit den 1970er Jahren eine steile Karriere hingelegt. Zuletzt hat sich die „body politic“ hinzugesellt. Diese wie auch die verwandte Biopolitik betrachtet den Körper als an den Raum gebundene Herrschafts- und Machtmetapher – aus zwei unterschiedlichen Perspektiven.

Foucault und seine zahllosen Erben argumentieren zwar stärker bio- als geopolitisch. Letztlich sind aber die vielfältigen Themenfelder der Biopolitik, also statistische Erhebungen zur Geburten- und Sterberate, Bevölkerungs- und Ansiedelungspolitik, Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens, staatlicher Umgang mit Epidemien und so fort, allesamt territorial gebunden. Biopolitik ist als Historisierung und Konkretisierung von Körperpolitik zu verstehen.

Der Zusammenhang zwischen Körper und Politik ist schon im Mittelalter ein wichtiges Thema, das der Historiker Ernst Kantorowicz in seiner klassischen Darstellung über die zwei Körper des Königs, den persönlich-sterblichen und den politisch-unsterblichen, beschrieben hat. Die frühe Neuzeit bringt eine entscheidende Wende: Bei Hobbes vereinigt der Leviathan die Körper der Untertanen. Er wird von ihnen legitimiert und repräsentiert sie als Staatskörper. Das gesamte neuzeitliche Denken hindurch spielt der Körper in verschiedenen Kontexten eine entscheidende Rolle. So ist an den Philosophen John Locke zu erinnern, bei dem der individuelle Leib als Eigentum des Einzelnen exponiert wird. Der geschunden-proletarische Leib bei Karl Marx spielt ebenso eine zentrale Rolle wie der faschistische „Männerkörper“, dem Klaus Theweleit in den späten 1970er Jahren eine vielbeachtete Studie gewidmet hat. Daß inzwischen auch feministische Autorinnen die Aufmerksamkeit auf „Körperpolitiken“ (Imke Schmincke) gelenkt haben, kann kaum überraschen.

Der Körper mag in der Geistesgeschichte wiederholt einen schlechten Ruf genießen: Von Platon bis zu heutigen Transhumanisten wie Ray Kurzweil steht er dem Geist entgegen, der die Wunderwerke geschaffen hat, mit denen der Mensch heute den Raum überwindet. „Superintelligenz“ (Nick Bostrom) soll natürliche Intelligenz überflügeln. Dieses Instrument macht ihn zum „Prothesengott“ (Sigmund Freud), der es einem Multimilliardär wie Elon Musk ermöglicht, die Mars-Besiedelung in Angriff zu nehmen. Jener widmet sich der Erforschung des „Hyperraums“ und sieht die Zukunft der Menschheit im „Abschied von der Erde“ (Michio Kaku).

Solche Zielsetzungen mögen sich in Zukunft als mehr denn bloße Science-fiction erweisen. Auf absehbare Zeit jedoch spielt sich das menschheitliche Drama noch auf Erden ab. Der erwähnte Hobbes sah den vielzitierten „Kampf aller gegen alle“ vornehmlich durch die Knappheit an Macht, Ansehen und materiellen Gütern bedingt. Der Wettbewerb um diese Ressourcen findet auf dem ebenfalls nicht beliebig vermehrbaren Boden statt, dessen Verteilung und Beherrschung stets das Denken der Geostrategen anregt.

Die conditio humana, das was den Menschen als solchen ausmacht, verhält sich im Vergleich zu den raschen Innovationen denkbar konservativ. Diese Diskrepanz hat der bekannte Ethologe Konrad Lorenz gemäß einer verbreiteten Überlieferung ausgedrückt: „In der Hand haben wir die Atombombe und im Herzen die Instinkte der steinzeitlichen Ahnen.“ Inwieweit die zunehmende Implementierung von Algorithmen in Silizium, die solche in Kohlenstoff ersetzen, daran etwas ändert, wird die Zukunft zeigen. Gleiches gilt für die faktische Überlegenheit intelligenter Maschinen gegenüber dem Menschen in manchen Bereichen des Alltags. Die natürliche Intelligenz, die bisher ihr künstliches Pendant entwickelt und vorantreibt, ist immer noch eine erdgebundene, die nicht körperunabhängig funktioniert.

Diese Zusammenhänge bleiben nicht ohne Folgen. Daß der Krieg in der Ukraine relativ konventionell geführt wird und das aktuelle Wort vom „Fleischwolf an der Ostfront“ schon vor rund 80 Jahren umging, ist kein Zufall. Das hochmoderne Satellitennetzwerk „Starlink“ ist eher ein Machtmittel als atomare Raketen, weil es zuläßt, auf den Gegner dahingehend einzuwirken, daß er sich den eigenen Wünschen und Zielen unterordnet. Kernwaffen können nur als ein solches Instrument betrachtet werden, wenn sie nicht die komplette Zerstörung ins Werk setzen, sondern als Drohpotential wirken, das andere gefügig macht. Der alte Engpaß von Mensch, erdgebundenem Körper und Macht sorgt dafür, daß der Napoleon zugeschriebene Ausspruch „Geographie ist Schicksal“ jenseits der Errungenschaften moderner Techniken stets von neuem aktuell ist.






Prof. Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, lehrt Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie in Armenien. Er schrieb zuletzt Teil 1 des Buches „Logiken des Wandels“ (Pliening Verlag).