Das bot des keisers zu versenken ist ein großer frefel.“ Hätte der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust seinen Willen bekommen, wäre eine solch verquere Schreibweise ab September 1944 im ganzen Dritten Reich verbindlich gewesen. Kurz zuvor stoppte der „Führer“ deren Einführung jedoch wegen mangelnder „Kriegswichtigkeit“.
Reichlich vier Jahrzehnte später holte dann das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim Rusts Vorschläge für eine Reform der Rechtschreibung von 1901 wieder aus der Mottenkiste der Geschichte. Auslöser hierfür waren diesmal die linken Wunschträume von einer Abkehr von der „reaktionären“ Substantivgroßschreibung und weiteren orthographischen Regelungen, welche die Schriftsprache angeblich zu einem „repressiven Herrschaftsinstrument“ par excellence machten und von der „elitären Anmaßung“ der Oberschichten zeugten.
Dazu kam ein gravierender pädagogischer Paradigmenwechsel weg von der „Einübung der Normen der Hochsprache“ hin zu einer „sprachlichen Kompetenzerweiterung“ – wobei diese aber nach dem Lust- statt dem Leistungsprinzip erfolgen sollte, was zur massiven Bevorzugung des Mündlichen führte und ein Festhalten an den „komplizierten“ Regeln der alten Rechtschreibung ausschloß.
Allerdings war der Zeitgeist nach wie vor nicht reif für eine Radikalität à la Rust, weswegen der Internationale Arbeitskreis für Rechtschreibreform, welcher 1992 anstelle des IDS konkrete Vorschläge für die politisch gewollte „Modernisierung“ der deutschen Orthographie vorlegte, in etlichen Punkten zurücksteckte. Dennoch stießen die Neuerungen, die aufgrund eines Beschlusses der deutschen Kultusministerkonferenz ab dem 1. August 1998 in Schulen und Behörden verbindliche Geltung erlangten, auf mannigfache Kritik. So wetterte der Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust gegen die „staatlich verordnete Legasthenie“, während Literatur-Papst Marcel Reich-Ranicki „eine nationale Katastrophe“ prophezeite. Parallel dazu bezeichnete der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger das Ganze als „Amtsfetisch“ einiger „Sesselfurzer“. Und der damalige Bundesaußenminister und Vizekanzler Klaus Kinkel (FDP) sah gar ein „typisches Fossil des technokratischen Machbarkeitswahns der siebziger Jahre“.
Eine Mehrheit lehnte die Reform ab
Darüber hinaus votierten 1996 Hunderte Schriftsteller und Sprachexperten in der Frankfurter Erklärung für einen Stopp der Reform, wonach 1998 dann auch 600 Professoren der Sprach- und Literaturwissenschaft aus dem gesamten deutschen Sprachraum eine Rücknahme des Vorhabens forderten. Dabei waren die Fachleute vor allem über drei Dinge verärgert, nämlich das undemokratische Procedere im Vorfeld, den handwerklichen Dilettantismus der Reformer sowie den von diesen billigend in Kauf genommenen oder gar gezielt angestrebten Kulturbruch.
Tatsächlich erfolgten die Eingriffe in die Rechtschreibung und damit auch in die natürliche
Sprachentwicklung des Deutschen auf sehr willkürliche Weise. Das begann bereits mit der Berufung der Mitglieder des Arbeitskreises, zu denen zumeist Fachleute gehörten, welche Minderheitsmeinungen vertraten, aber der Kultusministerkonferenz nach dem Mund redeten. Laut dem ehemaligen Leiter der Duden-Redaktion Günther Drosdowski war die personelle Besetzung des Gremiums ein „Rüpelstück“ ersten Ranges und führte zu „mafia-ähnlichen Zuständen“. Außerdem erfolgte keine Beteiligung der Öffentlichkeit, welche die Rechtschreibreform mehrheitlich stets vehement ablehnte. Davon zeugen unter anderem der vom Kieler Landtag später wieder aufgehobene Volksentscheid vom 27. September 1998 zur Wiedereinführung der herkömmlichen Rechtschreibung in Schleswig-Holstein sowie zahllose Meinungsumfragen ab 1997, bei denen sich regelmäßig zwei Drittel bis drei Viertel der Teilnehmer gegen die Reform aussprachen.
Deren Zweck sollte – so die erklärte Absicht der Initiatoren – darin bestehen, die Erlernbarkeit und Handhabung der deutschen Rechtschreibung zu verbessern und damit letztlich den Erwerb der Schreibfähigkeit insgesamt zu erleichtern. In der Praxis führen die von der Kultusministerkonferenz mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichtes oktroyierten Neuerungen jedoch zu vielerlei nachteiligen Folgen. Beispielsweise leidet die Lesbarkeit von Texten, welche letztendlich wichtiger ist als Vereinfachungen zugunsten des Schreibers – sofern es solche überhaupt gibt. Des weiteren fallen bisher eindeutige Sätze nun syntaktisch oder semantisch mehrdeutig aus, was zu extremen Mißverständnissen führen kann. Dies wiederum schadet am Ende der ganzen Gesellschaft, wie der Reformpädagoge und Publizist Hartmut von Hentig anmerkte: Demokratie „bedarf einer klaren, einer verläßlichen Sprache“, weshalb es unabdingbar sei, „sehr genau auf das Wort zu achten“ – was für das Mündliche wie das Schriftliche gelte.
Doch damit nicht genug: Die Rechtschreibreform bewirkt zudem auch eine unnötige Distanzierung vom deutschen Kulturerbe. Neuauflagen alter Werke in moderner Rechtschreibung verändern oder eliminieren Ausdrucksnuancen, was wiederum zur Sprachdesensibilisierung führt. Dazu kommt der faktische „Raub der Etymologie“, weil die Reformer oft der sogenannten „volksetymologischen“ Schreibung den Vorzug gaben, auch wenn diese die korrekte, historisch belegbare Etymologie ignoriert. Ein Beispiel hierfür ist die neue Schreibweise „Quäntchen“, weil von Laien angenommen wird, daß es sich dabei um eine Ableitung von „Quantum“ handele. In Wirklichkeit ging das frühere „Quentchen“ jedoch auf die alte deutsche Maßeinheit Quent zurück, deren Name wiederum vom mittellateinischen „Quentinum“ für den fünften Teil einer Menge herrührt. Solche Zusammenhänge werden infolge der neuen Rechtschreibung bald für immer in Vergessenheit geraten.
Kritik an der Gender-Sprache
Die Rechtschreibreform beschleunigte den Prozeß der Abkehr von der Schriftkultur beziehungsweise Lesekultur aufgrund der Verklärung der mündlichen Kommunikation in der soziolinguistischen Diskussion der Jahre nach 1968, über deren Auswirkungen heute im Rahmen der Klagen über den Fachkräftemangel und die zunehmend ausbildungsunfähigen Schulabgänger räsoniert wird. Ja, mehr noch: Letztlich trug die Einführung der neuen Rechtschreibung vor 25 Jahren auch zu der allgemeinen Dekulturisierung bei, die inzwischen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft zu beobachten ist.
Insofern kann nicht verwundern, daß manche Verantwortliche später zugaben, einen Fehler gemacht zu haben. So räumte die einstige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Johanna Wanka (CDU), Anfang 2006 ein: „Die Kultusminister wissen längst, daß die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ Und der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU), der auch als Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung fungierte, sagte 2003: „Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen sollen. Ich sage: Politik, Hände weg von einer Rechtschreibreform! Sprache ist ein dynamischer Prozeß, sie muß wachsen und entstehen.“
Noch deutlicher wurde der frühere Ministerpräsident des Saarlandes Peter Müller (CDU): „Diese Rechtschreibreform ist eine Mißgeburt und wird von den meisten Menschen nicht angenommen. Das muß die Politik akzeptieren und auch die Kraft haben, diese Reform grundsätzlich wieder abzuschaffen.“
Doch genau das geschah nicht. Vielmehr kommt es jetzt sogar zu einer Neuauflage des Fehlers von 1998, indem die gesprochene und geschriebene Sprache wiederum von seiten einer ideologisch getriebenen Minderheit beziehungsweise abgehobenen Elite verkrüppelt und manipuliert wird. Wobei nunmehr die angebliche Herstellung der „Geschlechtergerechtigkeit“ als Vorwand herhalten muß. Dies veranlaßte den renommierten Linguisten Peter Eisenberg, der 2013 unter Protest aus dem Rat für deutsche Rechtschreibung ausgetreten war, zu der Bemerkung: Das staatliche Eingreifen in die Orthographie habe den gesellschaftlichen Konsens in puncto Sprache „zerstört“, sagte er schon vor fünf Jahren der Deutschen Presse-Agentur. „Das riesige Regelwerk versteht kein Mensch, es hat nur Verwirrung gestiftet“, so Eisenberg. Das Thema sei für ihn bis heute nicht vom Tisch. Eisenberg sorgt sich insbesondere um eine sprunghafte Zunahme der Rechtschreibfehler – nach mehreren Untersuchungen um 30 Prozent bei Schülern, wie er sagt. „Aber jetzt kriegen wir es wieder – beim Gendern“. Damit drohe ein „zweiter Zerstörungsakt“.
In einem Gender-Gutachten des renommierten Verfassungsrechtlers Hans-Jürgen Papier von 2022 steht dazu der Satz: „Das Verständlichkeitsgebot im Hinblick auf die Amts- und Rechtssprache genießt als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang und kann einem Gebot geschlechtergerechter Sprache entgegenstehen.“
Rat für deutsche Rechtschreibung im Netz