Weder die Verquickung erotischer und machtpolitischer Interessen in der Textvorlage, noch die Erfüllung gängiger Seria-Standards in der Vertonung machen Mozarts Dramma per musica „Lucio Silla“, 1772 komponiert, heute wieder relevant. Es ist Mozarts musikalisch-dramatischer Zugriff, alle Interessenkollisionen die Figuren in sich selbst austragen zu lassen: schmerzvoll.
Dem Mitschnitt von Aufführungen auf dem Festival La Seine Musicale, Boulogne-Billancourt 2021 ist anzuhören, daß ihnen jahrelange musikalische und Inszenierungsarbeit vorangegangen war. Die entbehrliche Rolle des Aufidio ist gestrichen, die Rezitative sind gekürzt, was der Sache nur nützt. Unter Leitung von Laurence Equilbey spielt das Insula Orchestra auf historischen Instrumenten und singt ein exzellentes Sängerensemble nicht einfach vom Blatt, sondern bringt – mit den Worten Richard Wagners – „das innerste Wesen der Gebärde“ zum Ausdruck. Insbesondere die für den Kastraten Venanzio Rauzzini komponierte Partie des verbannten Senators Cecilio, der eigentlichen Hauptfigur der Oper, findet in dem gesangstechnisch und auf der Klangbühne auch darstellerisch phänomenalen Franco Fagioli ihre Erfüllung.
Die Musikwissenschaftlerin Florence Badol-Bertrand hat darauf hingewiesen, daß zum Ende aller Opere serie Mozarts die Herrscher gelernt haben, zu verzeihen und auf ihre Herrschaft zu verzichten. Wir kommen nicht umhin, auch schon den 16jährigen Mozart als einen politischen Komponisten zu hören.
Wolfgang Amadeus Mozart Lucio Silla Erato 2022