© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

Zwischen Scholle und Nachttopf
Deutsche Diskurse: Zum Selbstverständnis der Anbräuner in Spaßgesellschaft und Schuldgemeinschaft
Thorsten Hinz

Die Verleihung des Goethepreises an Ernst Jünger 1982 in Frankfurt am Main war von Protesten begleitet. Die Grünen verbreiteten, er sei „ein ideologischer Wegbereiter des Faschismus und ein Träger des Nationalsozialismus von Kopf bis Fuß“ gewesen und „ein durch und durch unmoralischer Mensch“. In seiner Dankrede sagte Jünger: „Auch die Inquisition ist säkularisiert. Wie einst der konfessionellen, spürt sie heute der politischen Abweichung nach. Dem Zeitalter des Anstreichers ist das Zeitalter der Anbräuner gefolgt.“ 

Der Neologismus „Anbräuner“ variierte und konkretisierte den Anschwärzer, den Denunzianten. Jünger nahm damit Bezug auf die nach 1945 beliebte Übung, den Nachbarn als Nazi zu denunzieren, weil man sich einen Vorteil davon versprach. In der russischen Besatzungszone hatte das tödliche Folgen, der Vater des Schriftstellers Uwe Johnson starb daran. Das Wort ließ sich aber auch auf die Nachgeborenen beziehen, die sich über die Eltern- und Großelterngeneration moralisch erhoben, indem sie sie als Nazis abwerteten. Es verweist auch auf die Beständigkeiten des Ewigen Denunzianten, der alle gesellschaftlichen Umbrüche übersteht. Und schließlich stellt sich die Frage nach habituellen Ähnlichkeiten und untergründigen Kontinuitäten, die zwischen den Eiferern im Dritten Reich und den Eifernden unter den deutschen Nachkriegsdemokraten existieren.

Das Anbräunen ist heute fester Bestandteil der Politik und darüber hinaus ein beliebter Volkssport: Man kann dumm wie Bohnenstroh sein und trägt trotzdem über den Klügeren den Sieg davon, wenn es gelingt, diesen irgendwie zum Nazi zu stempeln. Letztlich kann jeder kritische Geist zum Nazi werden: Kritiker der Corona-Maßnahmen und der Grenzöffnung genauso wie Klimaskeptiker, Lebensschützer, Gender-Gegner. Es reicht mittlerweile schon, von Vater und Mutter zu sprechen, um einer braunen Gesinnung beschuldigt zu werden. Der Begriff „Nazi“ hat sich von seiner Ursprungsbedeutung völlig abgelöst; er wird benutzt, um den Abweichler, den Eigensinnigen, den Andersdenkenden zu brandmarken, der sich dem Mainstream verweigert.

Der Leipziger Maler Neo Rauch widmete 2019 dem Anbräuner ein gleichnamiges Gemälde. Es zeigt einen Künstler in einer engen Dachkammer, der mit nacktem Hintern über einem Nachttopf hockt und den Pinsel in die eigene Notdurft taucht, um damit ein Hitler-Bild auf die Leinwand zu malen. Die Aussage ist klar: Der Anbräuner projiziert sein schäbiges Selbst, seine Komplexe und Ressentiments auf das Bild im Bild, das die übergroßen Initialen „W. U.“ trägt. Wer sich im Kunstbetrieb nur ein wenig auskannte, verstand das als Hinweis auf Wolfgang Ullrich, einen prominenten Kunsthistoriker.

Dieser hatte im Mai 2019 in der Zeit einen Aufsatz zum Schwinden der Kunstfreiheit und der Autonomie der Kunst publiziert. Gemeint ist die Unabhängigkeit des Künstlers und sein Recht auf politische und sonstige Zweckfreiheit seines Schaffens. Es gibt dazu etliche Erklärungen und Theorien: Der autonom arbeitende Künstler will nicht agitieren oder propagieren, er will neue Imaginationsräume eröffnen; sein Werk soll dem Rezipienten Gelegenheit geben, die im Alltag zersplitterten Wesenskräfte für einen erhabenen Augenblick zusammenzufassen; es soll die Wiederbegegnung mit Gott ermöglichen usw. usf.

Ullrich sieht die Kunstautonomie von zwei Seiten unter Druck gesetzt: Zum einen von der Linken, die vom Künstler das Engagement im Antikolonialismus, zugunsten von Minderheiten und sonstigen politisch und moralisch aufgeladenen Projekten erwartet. Zum anderen von reichen Kunstsammlern aus Asien und dem arabischen Raum, die ein Kunstwerk nach seinem Gebrauchswert, etwa als Luxusprodukt, taxieren.

Dem qualitätsbewußten Kritiker mißbehagt diese Tendenz, jedenfalls ihr Absolutheitsanspruch. Noch mehr aber irritierte ihn, daß ausgerechnet Künstler und Theoretiker, die ihm politisch suspekt sind, auf der Idee der Kunstautonomie beharren. Er nennt den Philosophen Frank Lisson, den Dresdner Maler und Publizisten Sebastian Hennig, die Leipziger Axel Krause sowie den weltbekannten Neo Rauch. Der Schriftsteller Uwe Tellkamp wird ebenfalls erwähnt. Ullrich befürchtet eine „Rechtsverschiebung“ in der Kunstwelt, wobei nicht ganz klar wird, woran er sie festmacht, denn: „Paradoxerweise dient die Kunst vieler rechtsstehender Künstler (...) gerade nicht dazu, rechte Thesen zu veranschaulichen.“ Paradox ist das, nebenbei bemerkt, keineswegs, sondern folgerichtig. Über Rauch heißt es: „Im Spiel mit leicht surrealen Bildräumen schafft er eine autonome Gegenwelt, mit viel Platz für unerfüllte Sehnsüchte.“ Offenbar wäre es Ullrich lieber, die Leerräume, die dem Betrachter assoziative Freiheit lassen, wären mit plakativen, politisch-korrekten Inhalten gefüllt. Auch trüge Rauch „aufgrund seiner Prominenz mehr als andere zur Verschiebung des politischen Klimas bei“. Ullrich hingegen, so ist zu folgern, ist mit dem gegenwärtigen Klima durchaus einverstanden.

Sein Aufsatz trägt den Titel: „Auf dunkler Scholle“, was Assoziationen an das von Joachim Gauck benutzte Schimpfwort „Dunkeldeutschland“, an die „dunkle deutsche Vergangenheit“ oder an „Blut und Boden“ weckt. Der rechte Künstler lebe seine Distanz zur Gesellschaft nicht mehr als „subkultureller Außenseiter“ und auch „nicht mehr als Bohemien aus, sondern begibt sich in eine Wahlverwandtschaft zu Reichsbürgern und Preppern, die sich in ihrem Bunker auf die finale Katastrophe vorbereiten“. Spätestens hier hat Ullrich voll in den Nachttopf gegriffen. Über Rauch heißt es noch: „Zwar liegt dem Leipziger Maler so etwas wie Antisemitismus fern (...)“ – aber wenigstens darf man auf der Syntax-Ebene einen Zusammenhang insinuieren.

Rauch revanchierte sich mit dem besagten Gemälde. Der Kritiker betonte vielmals, daß er sich davon keineswegs betroffen fühle. Es ließ ihn so sehr kalt, daß er gleich eine Gegenschrift verfaßte, „Feindbild werden. Ein Bericht“, die 2020 im Wagenbach-Verlag erschien. Die Lektüre ist auch nach drei Jahren lohnend, weil Ullrich kein Haudrauf ist, kein Schmalspur-Experte, der die Anbräunung aus Profession und Broterwerb betreibt, sondern ein hochgebildeter, zur Reflexion und Selbstreflexion befähigter Mann. Der Essay gibt Einblicke in das Selbstverständnis eines bundesdeutschen Liberalen.

Er habe durchaus keine Karrieren zerstören wollen, heißt es, sein Zeit-Artikel sei an ein intellektuelles, „bürgerlich-liberales Kunstpublikum“ gerichtet gewesen, welches „rechts“ – in vielleicht übertriebener Weise – als „Reizwort“ empfinde. Warum hat er dann nicht darauf verzichtet? Auch ist „rechts“ nicht nur ein „Reizwort“, es ist ein gesellschaftliches Stigma. Um ernsthaft zu diskutieren, müßte also erst einmal nach dem Zustand und der Zurechnungsfähigkeit einer Gesellschaft gefragt werden, in der ein „Rechter“ automatisch als Delinquent gilt. Dann würde auch klarwerden, warum Rauch heute eine „Bagage der Blockwarte, Gesinnungsschnüffler und der Politkommissare“ am Werk sieht, die ihm aus der DDR nur allzu bekannt ist.

Man wolle den Genannten doch nicht Schlimmes, sondern nur „ihre politischen Positionen zur Debatte stellen“ und ihnen zu verstehen geben, daß es mit den „über das künstlerische Werk hinausreichenden Künstlerprivilegien“ vorbei sei. Das ist entweder ahnungslos oder zynisch, denn in diesen „Debatten“, wie sie nun mal verlaufen, geht es nie um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments, sondern um die soziale und materielle Existenz der Abweichler. Ullrich weiß besser als andere, daß Preise, Stipendien, Ausstellungen, Rezensionen auf dem Spiel stehen.

Dem Maler Axel Krause wurde wegen politischer Äußerungen – er hatte sich gegen den Massenzuzug, für Pegida und die AfD ausgesprochen – von seiner Galerie gekündigt, Aussteller sagten ab. „Wir bedauern mitteilen zu müssen, daß der BBK Leipzig e. V. (Bundesverband Bildender Künstler – Th.H.) auf deine Teilnahme an der Ausstellung ‘Viola! 30 Jahre BBK Leipzig e. V.’ verzichten muß“, nämlich „um die maximale Sicherheit für die Werke aller Beteiligten zu gewährleisten. Wir sind zu dem Entschluß gekommen, daß es unverantwortlich wäre, der veränderten, wie bereits mitgeteilt, Versicherungslage nicht Rechnung zu tragen.“ So lautete 2020 eine Mail an den Künstler.

Hintergrund waren Drohungen aus dem linksradikalen Milieu. Aber nein, von „Deplatforming“ ist in Ullrichs Schrift keine Rede. Und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Die FAZ stellte fest, was vorher keinem aufgefallen war: Krause sei einfach ein schlechter Maler. Der Autor wünschte, „die Absage wäre ästhetisch begründet, dann hätte die Scheindebatte über Kunstfreiheit nämlich einen Gegenstand“.

Ullrich deutet den Konflikt als ein Ost-West-Problem, was vordergründig zutrifft, denn die inkriminierten Maler stammen aus der Ex-DDR. Schon 1993 hatte der zuletzt zum Neocon mutierte Publizist Richard Herzinger – gleichfalls in der Zeit – sich unter der Überschrift „Die obskuren Inseln der kultivierten Gemeinschaft“ ostdeutsche Schriftsteller zur Brust genommen, die mit dem Westen fremdelten. Ullrich beugt sich immerhin als mitfühlender Arzt über das östliche und rechte Mängelwesen, dem die Autonomie der Kunst zur „reaktionären Instanz“ geraten ist, statt von ihr „eine Dynamik zu erhoffen, die die Gesellschaft in eine offene Zukunft führt“. Für ihn, den Westdeutschen, sei eben die Postmoderne, die Erfahrung der „Vielfalt und Hierarchiefreiheit“ prägend gewesen; „jede These, jede Rangfolge, alles vermeintlich Alternativlose (konnte man) konterkarieren (…) Der Glaube an Festes und Absolutes schwand“. 

Diese Selbstbeschreibung erfaßt nur die Hälfte der Wirklichkeit, doch gerade weil sie die dialektische Kehrseite unterschlägt, ist sie so aufschlußreich. Günter Zehm (alias Pankraz) hatte 1995 in dieser Zeitung die schlagende Formel „Spaßgesellschaft und Schuldgemeinschaft“ geprägt: Je wilder die postmoderne Spaßgesellschaft sich gebärdet, desto mehr verhärtet sie sich als bundesdeutsche Schuldgemeinschaft. „Das Vaterland, die Polis, darf nach Belieben verhöhnt werden; wer Multikulti ablehnt, wer Zuwanderung begrenzen oder Sozialhilfe für ‘Asylanten’ kürzen will, der outet sich als ‘Rassist’,und das ist fast so schlimm wie ‘Verharmloser des Holocaust’.“ 

Beides findet im „Kampf gegen Rechts“ zusammen, der zur säkularisierten Inquisition geworden ist, und die Anbräunung in Permanenz gehört zu ihren bösartigen Instrumenten. Wer diese Wechselbeziehung nicht erkennt und sich von ihr verabschiedet, treibt ihre unheilvolle Dynamik voran, mag er sich auch liberal, tolerant oder sonstwie gerieren. Die „offene Zukunft“, die er offeriert, erscheint da als Schreckensbild. Ehe der Zusammenhang „Spaßgesellschaft und Schuldgemeinschaft“ nicht durchbrochen wird, kann es keine „Debatten“ geben, nur die Diskurse einer arroganten Macht, die Unterwerfung verlangt. Die einen besiedeln die Scholle, die anderen rühren im Nachttopf herum und bräunen an.

Wolfgang Ullrich: Feindbild werden. Ein Bericht. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, broschiert, 160 Seiten, 10 Euro

Wolfgang Ullrich: Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022, broschiert, 192 Seiten, Abbildungen, 22 Euro





Zum „Nazi“ gestempelt: Godwins Gesetz

Laut dem US-amerikanischen Anwalt Michael Wayne Godwin erhöht sich im Verlaufe von (Online-)Diskussionen mit deren zunehmender Dauer die Wahrscheinlichkeit, daß einer der Beteiligten einen Nazi-Vergleich zieht. Godwin fand das schon 1990 – damals war er juristischer Berater einer Nichtregierungsorganisation in den Vereinigten Staaten, die sich für Grundrechte im Informationszeitalter einsetzt – mit Blick auf die Verbrechen der Nationalsozialisten derart unangemessen und anstößig, daß er dazu ein kurzes Meme (kreativer Inhalt) im Usenet, einem älteren selbständigen Dienst des Internets, absetzte, das heute unter dem Ausdruck „Godwins Law“ bekannt ist. (tha)