© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

Vom Regen in die Traufe
Chemieindustrie: Für Bayer ist die Übernahme des US-Konzerns weiterhin ein teures Problem
Thomas Kirchner

Hohe Energiepreise und Steuern, Bürokratiewahnsinn – der Verband der Chemischen Industrie (VCI) zieht eine enttäuschende Zwischenbilanz: „Die Zahlen für das erste Halbjahr sind rot und die Produktionskosten am Standort Deutschland nicht wettbewerbsfähig“, erklärte VCI-Präsident Markus Steilemann. Rechne man das Pharmageschäft heraus, betrug der Produktionsrückgang 16,5 Prozent. Mit durchschnittlich 77 Prozent seien die deutschen Chemie-Kapazitäten nicht ausgelastet.

Bayer ist allerdings global aufgestellt – das hat diesbezüglich Vorteile, aber auch spezifische Risiken. Grund hierfür ist Glyphosat. Dieses Debakel macht allerdings nur Schlagzeilen, wenn Millionenzahlungen fällig werden. Inzwischen ist es ruhig geworden um das Pflanzenschutzmittel, denn es läuft für den Leverkusener Chemiekonzern vor US-Gerichten wie am Schnürchen. Die ersten drei Prozesse hatten die Deutschen bekanntlich verloren und mit 109.000 Klägern im Juni 2020 einen Vergleich über 9,4 Milliarden Dollar geschlossen.

Heftige Börsenverluste und milliardenschwere Rückstellungen

Für die verbliebenen 45.000 sowie zukünftige Fälle sind bereits 6,4 Milliarden Dollar zurückgestellt. Nach den anfänglichen drei Niederlagen vor Gerichten in den Jahren 2018 und 2019 hat Bayer seitdem alle sieben folgenden Prozesse gewonnen. Zuletzt im Mai in Missouri gegen einen Privatnutzer des Herbizids „Roundup“ von der 2018 übernommenen US-Tochter Monsanto, der von  Aimee Wagstaff, einer der in der Materie erfahrensten Staranwältinnen vertreten wurde, die 2019 ein 80-Millionen-Urteil gegen Bayer gewonnen hatte.

Darüber hinaus wurden einige der anfänglichen spektakulären Schadenssummen in der Revision stark reduziert, wie das Zwei-Milliarden-Dollar-Urteil vom Mai 2019, von dem zum Schuß nur 87 Millionen übrigblieben. Das erste Urteil über 289 Millionen Dollar aus dem August 2018 schrumpfte in der Revision auf 20,5 Millionen. Das 80-Millionen-Urteil war auf 25 Millionen begrenzt worden. Derartige Korrekturen von anfangs astronomisch hohen Urteilen nach jahrelangen Streitigkeiten sind in den USA der Normalfall, wenn auch in den Medien die Reduzierungen keine Aufmerksamkeit mehr erfahren. Bayers Strategie beruht auf Rückstellungen für aktuelle und künftige Klagen sowie einem Gang vor den Obersten Gerichtshof der USA. Denn Bayer argumentiert, die US-Umweltbehörde EPA habe keinen Warnhinweis auf den Roundup-Verpackungen gefordert, und klargestellt, daß ein freiwilliger Warnhinweis nicht genehmigt würde. Die Klagen nach Schadensersatz werden aber alle unter dem Recht des jeweiligen Bundesstaats gestellt, wonach Bayer einen Warnhinweis hätte anbringen müssen. Bei Rechtskonflikten geht Bundesrecht vor Landesrecht, weshalb Bayer 2022 die 25- und 87-Millionen-Urteile vom Obersten Gerichtshof in Washington überprüfen lassen wollte. Das Gericht lehnte eine Anhörung ab, doch Bayer hat die Hoffnung nicht aufgegeben und plant offenbar, einige der noch laufenden Prozesse erneut beim Obersten Gericht vorzulegen. Eine Entscheidung im Sinne Bayers würde die Prozeßwelle beenden und die Rückstellungen von 6,4 Milliarden Dollar auflösen.

Die Umweltbehörde selbst steht auch unter Druck: Verbände klagen gegen deren Entscheidung, Glyphosat wäre nicht krebserregend und Warnhinweise wären nicht notwendig. Das Gericht gab den Klägern recht, die EPA habe nicht ausreichend Fakten in ihrer Entscheidung berücksichtigt. Jetzt muß die Umweltbehörde die Sicherheit von Glyphosat neu bewerten, was bis 2026 dauern dürfte. Im ungünstigsten Fall könnte Glyphosat dann in den USA verboten werden, was Beobachter aber für unwahrscheinlich halten. In der EU ist das Mittel noch für mindestens fünf Jahre zugelassen.

Während die Lage bei Glyphosat ganz gut aussieht, droht Ungemach an neuer Front: Polychlorierte Biphenyle (PCB), die Isolierungen von Elektrokabeln feuerhemmend zwischen 1929 und 1977 zugegeben wurden, sind krebserregend. Die verbauten Kabel liegen heute noch in Wänden von Schulgebäuden in den USA. Anwohner einer PCB-Fabrik hatten schon in den 1990er Jahren erfolgreich gegen Monsanto prozessiert.

Brenzlig für Bayer wird es, weil chronisch klamme US-Kommunen PCB-Klagen als Einnahmequelle entdeckt haben. Seit 2020 hat Bayer bereits 1,6 Milliarden Dollar an kommunale Einrichtungen wegen Umweltverschmutzung durch die schwer abbaubare Chemikalie gezahlt. Jüngst einigte sich Bayer mit dem Staat Oregon kurz vor dem angesetzten Prozeßtermin auf 700 Millionen Dollar, um negative Schlagzeilen zu vermeiden. In sechs weiteren Bundesstaaten haben Generalstaatsanwälte Klage gegen Bayer eingereicht, 15 weitere überlegen es sich noch. Darüber hinaus steht ein Vergleich in Höhe von 636 Millionen Dollar mit 86 weiteren Kommunen an.

Nach Glyphosat neue US-Prozesse wegen Polychlorierten Biphenylen?

Im Bundesstaat Washington fordern 220 Kläger Entschädigung, die in einer Schule mit PCB in Berührung gekommen sein wollen. 30 davon haben in sechs Prozessen 627 Millionen Dollar gewonnen, gegen die Bayer Revision eingelegt hat. Eine Untersuchung des US-Kongresses fand 2016 heraus, daß zwischen 13.000 und 26.000 Schulen in den USA mit PCB-Produkten ausgestattet worden sind. Damit ist klar: Bei so vielen potentiellen Klägern kann PCB zum nächsten Glyphosat mit Schadensersatz in zweistelliger Milliardenhöhe werden.

Einziger Lichtblick: Kabelhersteller wie General Electric (GE) oder Westinghouse, die den Flammenhemmer den Isolierungen beimischten, sollen Monsanto in den 1970er Jahren Erstattung eventueller Entschädigungszahlungen zugesichert haben. Bayer könnte zumindest einen Teil der Zahlungen erstattet bekommen.

Wie auch Glyphosat ist PCB ein Erbe aus dem Kauf von Monsanto, der als einer der größten Wertvernichter in die Geschichte des Dax eingehen wird. Bayer hatte vor dem Kauf des US-Konzerns einen Marktwert von rund 100 Milliarden Euro. Monsanto kostete über 60 Milliarden, wovon 19 Milliarden Euro durch eine Kapitalerhöhung finanziert wurden. Heute, fünf Jahre später, beträgt Bayers Marktwert noch 50 Milliarden Euro. Warum der Aufsichtsrat den Vorstandschef Werner Baumann, der die Monsanto-Übernahme durchgedrückt hatte, bis Ende Mai dieses Jahres an seinem Sessel festkleben ließ, wird für immer ein Rätsel bleiben. Baumann hat mehr Wert vernichtet als die Wirecard-Pleite mit 28 Milliarden Euro.

bayer.com