© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

Wer geht an meiner Seite?
Bundeswehr fehlt der Nachwuchs: Zu wenige wollen hin, zu viele weg / „Schlimmer als der Materialmangel“
Peter Möller

Panzer, die nicht fahren, Flugzeuge, die nicht fliegen, U-Boote, die nicht tauchen.Wann immer in der Vergangenheit von der Krise der Bundeswehr die Rede war, lag der Fokus auf den Unzulänglichkeiten beim Material. Um das seit Jahren kritisierte Beschaffungswesen wieder in Schwung zu bringen, hat Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in den ersten Monaten seiner Amtszeit wichtige Entscheidungen getroffen. Der Krieg in der Ukraine und die wachsende Bedrohung durch Rußland hat allen Verantwortlichen vor Augen geführt: Deutschland kann es sich nicht länger erlauben, daß sich wichtige Rüstungsprojekte jahrelang verzögern und die Kosten regelmäßig alle Vorgaben sprengen. Ob der eingeschlagene Kurs, wie etwa der Wechsel an der Spitze des berüchtigten Beschaffungsamts der Bundeswehr, den erhofften Erfolg bringt, werden erst die kommenden Monate und Jahre zeigen.

„Viele, die was können, gehen wieder“

Doch kaum hat der Ressortchef auf diesem Feld erste Pflöcke eingeschlagen, drängt ein anderes Problem mit Macht in den Vordergrund: Der Truppe gehen die Soldaten aus. Derzeit umfaßt die Bundeswehr etwa 183.000 Soldaten, bis 2031 soll ihre Zahl auf 203.000 anwachsen. Doch dieses Ziel scheint derzeit kaum erreichbar. Denn die Armee leidet seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 darunter, daß Nachwuchs nur mit großem Aufwand und häufig nicht in ausreichender Zahl und Qualität rekrutiert werden kann. Das sei „viel schlimmer als der Materialmangel“, so ein reichlich desillusionierter Infanterieoffizier. Die Truppe blute regelrecht aus.

Angesichts des Krieges in Europa verschärft sich das Problem: Die Zahl der Frauen und Männer, die sich für den Dienst in den Streitkräften bewerben, ist weiter gesunken. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres haben sich deutlich weniger junge Leute bei der Bundeswehr beworben als im Vorjahreszeitraum. Laut Informationen des Wehrressorts bewarben sich demnach bis Ende Mai dieses Jahres 23.414 Frauen und Männer. Im Vergleich mit dem entsprechenden Zeitraum 2022 ist das ein Rückgang von rund sieben Prozent.

Und die Aussichten auf eine nachhaltige Besserung sind nach Einschätzung des Verteidigungsministers schlecht: „Wir werden bis zum Jahre 2035 sieben Millionen weniger Erwerbstätige in den Altersjahrgängen haben, die wir bei der Bundeswehr brauchen. Das sind Zahlen, die die Gesellschaft, die die Volkswirtschaft Deutschlands insgesamt vor Herausforderungen stellt, aber eben natürlich auch die Bundeswehr“, machte Pistorius deutlich und bezeichnete die Personalgewinnung als seine „Top-Priorität neben der Ausstattung der Bundeswehr“. Er verwies darauf, daß beispielsweise sein Geburtsjahrgang 1960 doppelt so groß gewesen sei wie der der heute 18jährigen. Dadurch sei die Bundeswehr viel stärker als früher im Wettbewerb mit der Wirtschaft um Personal. Gleichzeitig versuchte er zumindest etwas Optimismus zu verbreiten. So habe es von Januar bis Mai im Vergleich zum Zeitraum des Vorjahres 16 Prozent mehr Beratungsanfragen gegeben. 

Deutlich skeptischer sieht das der verteidigungspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Rüdiger Lucassen. Pistorius werde am Problem der Personalgewinnung scheitern, so die Prognose des Oppositionspolitikers. „Er muß scheitern, weil er die gleichen untauglichen, unmilitärischen Rezepte anwendet wie seine drei Vorgängerinnen. Mit Diversität, Regenbogenfahne und ziviler Bequemlichkeit lassen sich keine Soldaten rekrutieren.“ Streitkräfte, so Lucassen, müßten „Einheit, Patriotismus und Wehrhaftigkeit ausstrahlen“, dann würden sich junge Menschen für den Dienst interessieren. Er fordert zudem eine „Re-Militarisierung“ der Bundeswehr, in der „die Befähigung und der Wille zum Kampf“ im Vordergrund stünden.

Dabei ist die unzureichende Zahl der Bewerber nicht das einzige Problem beim Blick auf die Truppenstärke. Immer noch ist die Zahl der Soldaten, die ihren Wehrdienst vorzeitig beenden, viel zu hoch, im Heer beträgt die Abbrecherquote nach Angaben von Pistorius 30 Prozent. „Das hat viel mit Erwartungshaltung, mit Erwartungsmanagement zu tun, mit vielleicht falschen Vorstellungen, im Einzelfall auch mit Überforderung“, sagte er.

Um den chronischen Nachwuchsmangel zu beheben, will der SPD-Politiker vor allem mehr Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund für den Dienst an der Waffe gewinnen. Beide Gruppen seien derzeit völlig unterrepräsentiert. „Wir haben viele, viele Millionen Menschen in Deutschland, die in zweiter, dritter Generation hier leben, die eine Migrationsgeschichte haben, die den deutschen Paß haben und die wir nicht gewinnen derzeit für die Bundeswehr aus unterschiedlichen Gründen“,  sagte der Minister.

Boris Pistorius weiß, daß sich das Nachwuchsproblem der Bundeswehr mit derlei Wunschvorstellungen nicht lösen läßt. Gleichzeitig ist er politisch erfahren genug, um einschätzen zu können, daß in der derzeitigen politischen Konstellation eine Rückkehr zur Wehrpflicht, die eine deutliche Verbesserung der Personalsituation bringen würde, kaum durchsetzbar ist. Realistischer ist da der Vorschlag der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Eva Högl, die sich dafür ausgesprochen hat, junge Erwachsene wieder zu mustern. Doch wie bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht würde sich indes auch bei diesem Vorschlag rächen, daß die dafür notwendigen Strukturen wie etwa die Kreiswehrersatzämter weitgehend abgewickelt wurden.

Fürs erste bleibt Pistorius daher nur, die internen Abläufe zu verbessern, um die Nachwuchslage zu verbessern. Als einen kritischen Punkt hat er in diesem Zusammenhang unter anderem den langen Zeitraum von einer Bewerbung bis zu konkreten Beratungen und letztendlich Aufnahme in die Streitkräfte ausgemacht. Diese Zeitspanne müsse die Bundeswehr kurz halten. Ebenso seien neue Werbekonzepte notwendig. Denn mittlerweile scheint klar: Das Personalproblem wird die Bundeswehr noch lange begleiten – denn anders als Panzer und Kampfflugzeuge lassen sich Rekruten eben nicht einfach bei der Industrie bestellen. 

Um junge Leute zu gewinnen und zu halten, ist der bereits zitierte Truppenoffizier überzeugt, müßten die Militärs endlich „kapieren, daß man Menschen motivieren muß“. Das versäumt zu haben, räche sich jetzt. „Viele, die was können, gehen gleich wieder nach der Mindestzeit, die sie sich verpflichtet haben.“