© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

„Europa sinkt ins Dunkel“
Interview: Seine Skulpturen und Plastiken begreift der französische Künstler Serge Mangin als Monumente gegen die Barbarei. Nun ist mit „Griechisches Licht. Ein Bildhauer für das Abendland“ sein neues Buch erschienen
Moritz Schwarz

Herr Mangin, verlischt das „griechische Licht“ Europas? 

Serge Mangin: Das haben Sie poetisch formuliert. Das griechische, auch attische Licht ist seit Generationen ein Thema der Kunst und Griechenland Europas kulturelle Mutter. Schopenhauer hat davor gewarnt, die Lektion der Antike zu ignorieren und prophezeit, welche Barbarei sonst über uns hereinbreche. Doch nun sind wir leider soweit: Ich habe die Welt bereist, und nicht nur Europa sinkt in die Dunkelheit. Nein, durch die Globalisierung ist die ganze Welt eine Coca-Cola-Republik geworden. 

Das attische Licht erscheint in Ihrem Buch als Allegorie einer ewigen Flamme, die für Europa steht, nun aber zu erlöschen scheint. Doch nicht, weil es ihr an Feuer fehlt, sondern weil wir verlernen, ihr Feuer zu sehen. 

Mangin: Ja, die allgemeine Ignoranz, die sich durch die meisten Fernsehsendungen, auch Schulprogramme, die Werbung, Diskotheken, durch das Gebrülle, das ganze Tamtam verbreitet, ist in den Gesichtern der Menschen von heute, an ihrer Haltung, der Art sich zu bewegen, zu kleiden, zu benehmen und zu sprechen, abzulesen – da ist nichts mehr von Würde.    

Sorgenvoll schauen Sie in Ihrem Buch auch auf Ihre alte Heimat. Was fühlt Ihr Herz, wenn Ihr Blick auf das Frankreich von heute fällt? 

Mangin: Ich fühle Schmerz. Zwar ist die Architektur noch da, die Seine strömt ruhig wie eh und je, und es gibt noch wunderschöne Gassen, Kirchen und Museen, aber Paris hat seine Seele verloren – und ebenso London, Rom, Stockholm, selbst zum Teil Athen. Die moderne Welt, die Autos, der Kommerz, die Eile haben die Wurzeln unserer alten Städte verdorrt und vernichtet. Nun ragen sie auf wie Bäume ohne Blätter in einem zu heißen Sommer. 

Im Bayerischen Rundfunk haben Sie unlängst das Frankreich Ihrer Jugend als ein Land voll stolzer Menschen beschrieben. Was ist aus diesem Stolz geworden?  

Mangin: Während meiner Kindheit und Jugend war das Land noch ursprünglich, die Arbeiter in den Straßen von Paris mit ihren Baskenmützen, die Zigarette lässig zwischen den Lippen und ein Baguette unter dem Arm, wirkten, als hätten sie selbst noch die Kathedralen erbaut oder die Bastille gestürmt. Wir alle sprachen Argot, ein Pariser Slang und ursprünglich eine geheime Gaunersprache, die die Obrigkeit nicht verstehen sollte – eine farbige, subtile, ironische, ja skeptische, aber auch revolutionäre Sprache. Unter uns waren Ausländer aus ganz Europa, Afrika, Asien. Der Argot aber war wie ein Stammeszeichen – wer ihn sprach war einer von uns und wir alle waren aufrechte Franzosen. Da war nichts von den heute ganz Frankreich durchziehenden dramatischen ethnischen Spannungen. Einige Autoren, nicht nur ich, bedauern, daß der Argot fast völlig verschwunden ist. Und mit Dankbarkeit denke ich an Édith Piaf, die mit ihrer magischen Frauenstimme das ewige Paris in Person war. 

Die „Welt am Sonntag“ schrieb, Ihr Œuvre sei „ein Aufstand der Schönheit“ und „Widerstand gegen den Verrat“ an der Philosophie zugunsten der Ökonomie.  

Mangin: Ja, die Globalisierung hat uns zu Lohnsklaven gemacht.

Nicht bereits die Industrialisierung?

Mangin: Nein, in Tokio oder Peking war das vielleicht schon zuvor der Fall, doch nicht in Europa. Meine stehenden Menschen symbolisieren die Fähigkeit, Widerstand zu leisten: „Nicht mit mir!“ 

In Ihrem neuen Buch „Griechisches Licht“ schreiben Sie leidenschaftlich vom „stehenden Menschen“, den Sie den „Säulenmensch“ nennen. Was bedeutet das?

Mangin: Die Säule ist ein Symbol. Der Säulenmensch ist jener, der Tempel baut, der sich erhebt, der gleich Atlas die Welt trägt, wie die Säule das Tempeldach – der seine Mission erfüllt. Ein Chor menschlicher Stimmen erhebt sich ebenso wie eine Säule gen Himmel. Ob Azteken, Ägypter, Griechen, Römer und viele andere, sie alle waren fähig, im Chor zu singen. Ein Volk aber, das nicht mehr singen kann, ist tot – und das ist heute die Wahrheit in ganz Europa. Übrig bleiben die Bilder unserer Vorfahren, die Erinnerung unserer Abkunft von Säulenmenschen, eines Typus, den, wer noch zu sehen vermag, die Aura der Glaubwürdigkeit umglimmt.

„Glaubwürdigkeit“? 

Mangin: Ja, und glaubwürdig ist, wie Pythagoras schreibt, der Mensch, der auch das Tier respektiert, denn: „Was wir Tieren antun, das kommt auf uns Menschen zurück.“ Und damit meinte der Philosoph auch Bäume und Pflanzen, ja selbst Bohnen! Nun, über 2.500 Jahre später ist es nicht schwer einzusehen, daß ein glaubwürdiger Mensch das heutige Massaker an Tieren und Bäumen nicht weiter dulden kann, ebenso wie ihren Transport, zusammengepfercht oder die Baumkadaver aufgestapelt, gleich Leichen nach einer Schlacht. Daher ist meine nach der Nike von Samothrake geschaffene Allegorie „Save our Seas“, die auf der Strandpromenade von Westerland mahnend gen Meer blickt, ebenso wie meine Skulptur „Save our Nature“ in Wien, so wichtig. 

Daß es weibliche Bildnisse sind, die da mahnen, ist kein Zufall: Sie sehen Ihre Allegorien auch als Zeugnis gegen die moderne Lehre von der allzeit unterdrückten Frau.  

Mangin: Ich habe diesen weiblichen stehenden Menschen jene Anmut von Autorität geben, die das Weibliche einst hatte. Denn es ist nicht lange her, da konnte im Abendland ein Sinnbild der Freiheit – deren Berühmteste uns ihr Reich bei der Einfahrt in den Hafen von New York verkündet – nur von einer Frau verkörpert werden. Das gleiche gilt für die unbedingte Gerechtigkeit, den göttlichen Frieden oder die Herrlichkeit des Sieges und selbst die Französische Revolution Delacroix’ ist eine Frau! Tatsächlich waren es schon bei Griechen und Römern meist die Göttinnen, die das letzte Wort hatten. 

Moment, Zeus ... 

Mangin: ... ist Göttervater, ja, lesen Sie aber nach, wer sich durchsetzt. Doch gerade heute, da die Frauen glauben, frei zu sein, sich in Wahrheit aber nur, wie der Mann, für einen goldenen Käfig in die Lohnsklaverei verkaufen, will ich in meinen Werken etwas von der Erhabenheit und der natürlichen Autorität der Frau bewahren, die einmal den europäischen Geist beseelt haben. In der Hoffnung, einst könnte sie von den Europäern, von unseren Frauen und Mädchen wiederentdeckt werden. Das gilt auch für die Deutschen, so habe ich für meine Skulptur „Deutsche Einheit“ das Thema der Zwillingsschwestern gewählt, denn meine Versuche, sie durch zwei Männer auszudrücken, waren unglaubwürdig. 

Wie politisch ist Ihr Werk?

Mangin: Der Politik wohnt Feigheit inne, denn oft findet sie nicht den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Ich glaube auch nicht an die politische Wirkung von Parteien und habe daher noch nie an einer Wahl teilgenommen, sondern mich auf ein Rebellentum im Sinne Ernst Jüngers zurückgezogen. Entrückt und einsam, wie in einer Waldklause, wo ich selbst entscheide, was Gesetz sein soll. 

Aber nicht zuletzt Ihre Politikerportraits, besonders das Gorbatschows, Helmut Kohls und von George Bush senior, haben Sie bekannt gemacht, die 1998 in Berlin von Altkanzler Helmut Schmidt eingeweiht wurden. 

Mangin: Diese drei Väter der deutschen Einheit haben den Weltkrieg erlebt und noch in der Schule des Lebens gelernt, statt nur in den Hinterzimmern der Parteien. Ihre Politik war Idee, die heutiger Politiker ist Karriere, bis sie in die Wirtschaft wechseln.   

Kohl folgte einer Idee? War er nicht vielmehr erster Ausverkäufer der CDU, die „Angela Merkel“ seiner Zeit?

Mangin: Fast eine Woche arbeitete ich in Kohls Oggersheimer Wohnung an seinem Portrait und führte viele Gespräch mit ihm. Richtig ist, daß er auch etwas Grobes hatte, wie ein Bär war, bei dem man nie weiß, ob er mit dir spielt oder dich gleich frißt. 

Zum Beispiel? 

Mangin: Einmal fuhren wir im Auto und er sprach sehr nett mit mir. Als wir hielten, wollte ich aussteigen. Da brüllte er mich an: „Halt, Vorsicht!“ Doch nicht Fürsorge lag in seinem Ton, sondern etwas Herrisches. Es ist aber nicht selten, daß berühmte Menschen auch eine negative Seite haben. Gorbatschow etwa empfing mich unwillig, eisig, fast wütend. Erst als er in meinem Katalog blätternd entdeckte, daß ich auch Pavarotti portraitiert hatte, mit dem seine kurz zuvor verstorbene Frau gesungen hatte, und ihm Tränen in die Augen stiegen, brach das Eis. Später hat er mich sogar in meinem Atelier in München besucht. Bush dagegen war typisch amerikanisch, beim ersten Treffen kam er wie ein alter Freund auf mich zu: „Hi Serge, how are you?“ 

Zu den wenigen Prominenten ohne Schattenseiten zählen Sie Ernst Jünger. 

Mangin: In der Tat ein besonderer Mensch, diskret und freundlich, er konnte zuhören, hatte die Fähigkeit, ein guter Freund zu sein. Und sein Humor! Im Ersten Weltkrieg wurde er an die zehnmal verwundet. Als ich ihm sein fertiges Portrait präsentierte, sagte er: „Sie sind der erste Franzose, der mich richtig getroffen hat!“ Bemerkenswert auch, daß er selbst mit 95 den nahen Tod nicht zu fürchten schien, stets war er positiv und in die Zukunft orientiert. Leider wurde seine Person in Deutschland geradezu demontiert und er zum Kriegsverherrlicher abgestempelt, was überhaupt nicht zutrifft. Tatsächlich war Jünger der Chronist und Zeuge des 20. Jahrhunderts schlechthin! Und zudem ein Poet und Philosoph, ein universaler Geist, wie etwa ein Aristoteles. 

Ist es nicht irritierend, jemanden wie Jünger zu portraitieren und dann eine banale Persönlichkeit wie Kohl?

Mangin: Da muß Gerechtigkeit walten: Ja, Kohl war, im positiven Sinne, ein Bauer, pragmatisch und ein gewiefter Taktierer der Politik. Aber er hatte auch eine Idee, wollte Großes bewältigen, war geradezu besessen von einer Mission, dem Frieden: zu verhindern, daß Europäer, besonders Deutsche und Franzosen, je wieder miteinander Krieg führen. Denn wie Gorbatschow und Bush hatte er diesen erlebt und sein älterer Bruder fiel als Soldat. Auch den Euro sah er so, für ihn war er kein finanzpolitisches, sondern ein friedenspolitisches Werk. Auch spricht für Kohl seine hohe Wertschätzung Ernst Jüngers, ganz gegen den Zeitgeist damals. Tatsächlich hatte er eine philosophische Seite, so sagte er mir zu meiner Verblüffung einmal, die Flucht der Gesellschaft in den Konsum, den seine Partei ja quasi propagierte, sei die Flucht vor der Angst vor dem Tod.  

Der Historiker Timothy Garton Ash hat gesagt, nach 1945 sei „Deutschland – zum Glück – langweilig geworden“. Was zog ausgerechnet einen Künstler Anfang der siebziger Jahre von Frankreich nach Deutschland?  

Mangin: Langweilig? Völlig falsch! Zum einen habe ich mich in ihre Sprache verliebt, wie in eine Frau! Die deutsche Grammatik ist beeindruckend: streng und analytisch wie die lateinische. Und dann ist da diese Vielgestaltigkeit, von der harten Kommandosprache bis romantischer Lieblichkeit, die das Deutsche annehmen kann. Aber das Deutschland, das ich als junger Mann entdeckte, war auch gleichzeitig tolerant und doch noch selbstbewußt.   

„Selbstbewußt“?

Mangin: Ja, die Deutschen hatten ihre Fehler und Verbrechen anerkannt und waren nun voll Zuversicht, daß ihnen eine bessere Zukunft gelingen würde.

Dagegen erhoben sich – allerdings auch in Deutschland – die Studenten im „Pariser Mai 1968“.

Mangin: Zunächst bewunderte ich die Studenten, denn Steine gegen die damalige französische Polizei zu schleudern, die blindlings und brutal alles zusammenschlug, war wahrhaft mutig. Auch war die Bewegung zunächst aufrichtig, doch bald schon degenerierte sie: Alles sollte weg. Aber keinen Respekt vor unserer Identität, unseren Tradition zu haben war keine Lösung, sondern dumm und hat nur Kommerzialisierung und Globalisierung den Boden bereitet. Meine Kunst dagegen engagiert sich für das alte Abendland – das ich als Kind der deutsch-französischen Freundschaft so verstehe, wie de Gaulle und Adenauer es meinten – und das auf jene von Jünger beschriebene Weise: „Je weniger die Kunst politisiert, desto mehr wirkt sie politisch.“ Meine Kunst ist keine Propaganda, sondern inspiriert von einer abendländischen Sensibilität – denn, so der Philosoph Nicolás Gómez Dávila: „Gegen die heutige Welt konspirieren wirksam nur die, die insgeheim die Bewunderung der Schönheit verbreiten.“ Ausnahmen sind meine Werke für den Schutz der Meere, Natur, Wälder und gegen die Privatisierung des Trinkwassers. Die „moderne Kunst“ ist dagegen eine Art zu terrorisieren. Schon der Begriff ist ein Diktat, denn wer nicht „modern“ ist, gilt als dumm, reaktionär, altmodisch. Dabei ist sie selbst längst zu purem Akademismus verkommen. Und es ist von unfreiwilliger Komik, daß sie gleichwohl, und zudem schon über hundert Jahre alt, noch immer die gleiche revolutionäre Attitüde pflegt. Verstehen Sie mich nicht falsch, es gibt auch wertvolle abstrakte Kunst, wie etwa die Spätwerke William Turners. Die „moderne Kunst“ aber ist, wie 1968, eine Explosion der Unfähigkeit, des Bluffs, der leeren Phrasen, die das Abendland zerstört hat. Und ebenso wie gegen 1968 und ihre Nachfolger richtet sich meine Kunst gegen die Ultranationalisten. Denn Abendland, das ist nicht das Extrem und keine Form der Überlegenheit, sondern das sind unsere Erinnerungen und Traditionen, Märchen und Geschichten, Städte und Kirchen und unsere Vorfahren und Familie, die Menschen, die wir lieben.






Serge Mangin, geboren 1947 in Paris, lebt und wirkt seit 1973 in München. Seine Plastiken stehen in Berlin, Hamburg, München und weiteren deutschen Städten. Nun ist sein neues Buch erschienen: „Griechisches Licht. Ein Bildhauer für das Abendland“