© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

Krisen, Kriege, Katastrophen
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft legt in turbulenten Zeiten ihre Jahresbilanz 2022 vor
Christoph Keller

In der laufenden Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) befanden sich im vergangenen Jahr 31.750 Projekte, auf die eine Bewilligungssumme von 3,9 Milliarden Euro entfiel. Der DFG-Jahresbericht 2022 dokumentiert mit einem imposanten Zahlenwerk, wohin diese bewilligten Steuergelder im Detail geflossen sind. Obwohl der Bericht gewohnte Trends, Ausweitung der Einzeletats und Vermehrung der Projekte, fortschreibt, markiert er für die Bonner DFG doch eine Zäsur. Mit Ukraine-Krieg, Energieknappheit, Klimawandel und Inflation sei 2022 ein Jahr der kumulierenden Krisen gewesen, die Deutschland und die Welt länger begleiten würden. Forschung könne diese Krisen nicht verhindern, aber ihre Ursachen ergründen und über dieses Verständnis Wege finden, sie zu bewältigen. Darauf habe die Förderpraxis der DFG schnell reagiert.

Wie schnell, schildert das Beispiel der Ad-hoc-Bewilligung für den Geographen Frank Lehmkuhl und den Wasserbauexperten Holger Schüttrumpf. Die Forscher der RWTH Aachen erhielten Geld für ihre Machbarkeitsstudie zur Beurteilung der Schadstoffbelastung von Sedimenten infolge der Hochwasserkatastrophe, die am 14. und 15. Juli 2021 das Ahrtal verwüstete. Sie konzentrierten ihre Untersuchungen an Ahr und Inde, Erft und Wupper auf die vom Hochwasser ausgelöste Sedimentation und Erosion in den Gewässern. Sie berücksichtigten zudem den Einfluß der Talsperren, die Effektivität bisheriger Hochwasserschutzmaßnahmen und die Geschichte einer zersiedelten und versiegelten Kulturlandschaft, wo die metallverarbeitende Industrie nahe den Flüssen produziert.

„Energiekrise“ keine Folge des 2011 beschlossenen Atomausstiegs?

Fest steht bereits, daß durch weggespülte Altlasten an einigen Orten die Kontaminierung des Bodens mit Blei erschreckend zugenommen hat. Selbst in Auenbereichen, die in den letzten 100 Jahren von Ablagerungen der Montanindustrie vollkommen unbelastet gewesen seien, hätten sich toxische Substanzen gefunden. Künftiger Hochwasserschutz werde bedenken müssen, wie zu verhindern ist, daß diese „tickenden Zeitbomben“ in die Flüsse gelangen. Bemerkenswert ist, daß Lehmkuhl und Schüttrumpf kein Wort über den „Klimawandel“ verlieren, der politisch-medial als Verursacher für dieses seltene Hochwasserereignis gilt.

Anschlußfähiger geriert sich die DFG-Führung, die über Nacht alle Kooperationsprojekte mit russischen Partnern stornierte. Für sie ist denn auch die 2022 entstandene „Energiekrise“ keine Folge des 2011 beschlossenen Atomausstiegs und der grotesken Fehleinschätzung, ein führendes Industrieland ließe sich ausschließlich mit „Erneuerbaren Energien“ aus Wind und Sonne versorgen. Ursächlich für sei vielmehr allein der Ukraine-Krieg, der nach DFG-Auffassung eine willkommene Gelegenheit sei, sich nicht nur aus der Abhängigkeit vom russischen Erdgas zu lösen, sondern auf alle fossilen Energieträger zu verzichten. Die Konsequenz lautet: Viele in den Natur-, Ingenieurs- und Lebenswissenschaften laufenden Forschungsprojekte mit Energie- und Klimabezug werden verlängert, und es werde verstärkt in neue einschlägige Vorhaben investiert. 

So erhielt Frank Hellmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) eine Sachbeihilfe für sein Projekt „Generalisierte Synchronisation auf komplexen Netzwerken und dynamische Stabilität in künftigen Stromnetzen“. Aus der Theoretischen Physik heraus will Hellmann mit einem innovativen Modellierungsansatz auf die Herausforderung reagieren, daß große konventionelle Kraftwerke abgeschaltet und durch kleinere Energielieferanten wie Solaranlagen und Windräder ersetzt werden. Wie sich „100.000 erneuerbare Energiequellen“ robust synchronisieren lassen, um ein stabiles Netz zu knüpfen, ist für Hellmann eine „riesige Herausforderung“, der seine „intelligenten Steuerungsmodelle“ aber gewachsen seien.

Ähnliche Zuversicht versprüht Alexander Martin (Uni Erlangen-Nürnberg), dessen Sonderforschungsbereich „Mathematische Modellierung, Simulation und Optimierung am Beispiel von Gasnetzwerken“ 2022 schon zum dritten Mal um weitere vier Jahre verlängert wurde. 2026 will Martin dann wissen, wie man Gasleitungen für den störungsfreien Transport von Wasserstoff, der bislang unter gewissen Bedingungen leider durch die Rohrwände diffundiert, umrüstet.

Eine für die Umsetzung der Energiewende nicht ganz unwichtige Frage scheint für den Geographen Stephan Bosch und den Klimaforscher Harald Kunstmann (beide Uni Augsburg) von politisch-planerischer Seite verblüffenderweise bislang noch unbeantwortet: „Wie viele Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen bräuchten wir überhaupt?“ Auch Bosch und Kunstmann erhalten bis 2024 eine Sachbeihilfe, um mittels Modellierung die ertragreichsten Energielandschaften zu ermitteln. Dafür kombinieren sie natur- und sozialwissenschaftliche Ansätze, um exakt zu bestimmen, welchen Preis die Gesellschaft für das Phantom Klimaneutralität zu zahlen hat, auf wieviel Flächen für Nahrungs- und Futtermittelgewinnung sie zu verzichten bereit ist, wo die Grenzen sozialer Akzeptanz liegen für die vielen Bürgern bedrohlich nah an den Gartenzaun rückende „alternative Energieproduktion“.

Zudem sollen die Klimasimulationen der beiden Augsburger Forscher Standorte ausweisen, die auch in 50 Jahren noch optimale Bedingungen hinsichtlich der Wind- und Sonnenverhältnisse, der Temperatur und der Niederschläge bieten. Für die Berechnung der Niederschläge im Jahr 2074 sei das schon schwierig genug, räumt Kunstmann ein, für die der Sonneneinstrahlung aufgrund der schlechten Datenlage aber „noch weit schwieriger“.

Die DFG reagiert zwar, wie der Jahresbericht dokumentiert, mit ihrer Förderung flexibel nicht nur auf akute Krisen. Aber die Finanzierung zahlreicher Projekte, die helfen sollen, chronische Mißstände mindestens „abzufedern“, steht im Kontext der alles überwölbenden „Klimafrage“. Was, wie bei dem Ökonomen Tilman Brück, auf den ersten Blick oft nicht erkennbar ist. Der Heisenberg-Professor baut die standortübergreifende Arbeitsgruppe „Zero Hunger Lab“ am Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenanbau in Brandenburg und am Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften an der Humboldt-Uni Berlin auf. Im Zentrum seiner Forschungen stehen chronische afrikanische Hungerkrisen, die er nun in Beziehung setzt zu verstärkenden Effekten wie Klimawandel, Bürgerkrieg und Krieg auf dem Schwarzen Kontinent.

Klimawandel und Gesundheit in Afrika südlich der Sahara

Anschauungsunterricht bietet ihm gegenwärtig der südliche Sudan, wo die Bevölkerung unter dem Wechsel klimawandelbedingter Dürreperioden und Überschwemmungen ebenso leide wie unter dem Bürgerkrieg. Stereotype UN-Hilfsgüter-Lieferungen könnten solche humanitären Katastrophen nur lindern. „Prävention statt Behandlung“ lautet daher die nachhaltigere Strategie von Brücks „Zero Hunger Lab“.

Hunger und Fehlernährung sind auch Themen der Forschungsgruppe „Klimawandel und Gesundheit in Afrika südlich der Sahara“. Unter der Leitung von Ina Danquah (Universitätsklinikum Heidelberg) ging das Projekt 2022 in seine zweite Förderperiode, um sich mit Unterstützung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung den drei klimasensiblen Krankheiten Malaria, kindliche Unterernährung und Hitzestreß zu widmen. Dazu gehört ein Teilprojekt zur Ernährungssicherheit von Kindern. Einbezogen sind 600 Haushalte, die in Kenia und Burkina Faso unter Danquahs Anleitung biodiverse Gärten anlegten, um mit einer vitaminreicheren Kinderernährung experimentieren zu können.