© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

Eine Erneuerung unseres Volkes
Im August 1943 formulierten die Widerständler des Kreisauer Kreises ihre Konzeption einer Verfassungsordnung des Deutschen Reiches nach Beseitigung der Hitler-Diktatur
Herbert Ammon

Am 8. August 1944, im ersten Hauptverfahren gegen acht aus der Wehrmacht ausgestoßene Führer des gescheiterten Staatsstreichs am 20. Juli, stand Peter Graf Yorck von Wartenburg vor dem im Berliner Kammergericht am Schöneberger Kleistpark tagenden „Volksgerichtshof“. Yorck, neben dem Namensgeber Helmuth James von Moltke die andere Führungsfigur des „Kreisauer Kreises“, bekannte sich offen zu seiner Zusammenarbeit mit Stauffenberg. Als Motive nannte er die Ablehnung der „nationalsozialistischen Auffassung von Recht“ und „die Judenausrottung“. Ehe ihm Roland Freisler mit einem Wutausbruch ins Wort fiel, erläuterte Yorck die Prinzipien des Widerstands: „Das Wesentliche ist, was alle diese Fragen verbindet, der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen Gott gegenüber.“

Noch am gleichen Tag, am 8. August 1944, wurden Yorck und die anderen Verschwörer in Berlin-Plötzensee erhängt. Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor, am 9. August 1943, hatten sich die Widerständler des – erstmals von der Gestapo so betitelten – Kreisauer Kreises in Yorcks Haus in Berlin-Lichterfelde, Hortensienstraße 50, versammelt. Getragen von der mehrfach enttäuschten Hoffnung auf einen Staatsstreich der Militärs, hatte man sich in langer Nachtsitzung auf einen Verfassungsentwurf für das vom Nationalsozialismus befreite Reich geeinigt.

Von leichten Modifikationen abgesehen, basierten die „Grundsätze für die Neuordnung“ auf dem Dokument, das bereits im Oktober 1942 auf der zweiten der drei Tagungen auf Gut Kreisau verabschiedet wurde. Die Liste der dortigenTeilnehmer vermittelt ein (unvollständiges) Bild des im Kern auf Freundschaften begründeten Widerstandskreises: Anwesend waren neben den Ehepaaren Moltke und Yorck die jüngste Yorck-Schwester Irene Yorck, der mit Moltke seit den jugendbewegten schlesischen „Arbeitslagern“ befreundete Horst von Einsiedel, der Sozialdemokrat (und religiöse Sozialist) Theodor Haubach, der Theologe Eugen Gerstenmaier, der Oberstleutnant im Generalstab des Wehrmachtbefehlshabers Norwegen Theodor Steltzer – im November 1942 übermittelte er einen mutmaßlich von ihm selbst verfaßten Friedensplan für ein föderatives Europa an den norwegischen Widerstand –, der katholische Jurist Hans Peters, der Jesuitenpater Alfred Delp sowie der Gewerkschafter Hermann Maaß. 

Der Verfassungsentwurf vom 9. August 1943 beginnt mit folgendem Bekenntnis: „Die Regierung des Deutschen Reiches sieht im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes, für die Überwindung von Haß und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft. – Der Ausgangspunkt liegt in der verpflichtenden Besinnung des Menschen auf die göttliche Ordnung, die sein inneres und äußeres Dasein trägt (...) Die innere Neuordnung des Reiches ist die Grundlage zur Durchsetzung eines gerechten und dauerhaften Friedens.“

Geprägt von der Ablehnung der industriellen Massengesellschaft sowie den Erfahrungen in der Weimarer Republik sah der Entwurf einen viergliedrigen Aufbau des Reiches („Das Reich bleibt die oberste Führungsmacht des deutschen Volkes“) von unten nach oben vor: Gemeinden, Kreise, Länder („Um eine wirkliche Selbstverwaltung zu ermöglichen, sollen die Länder etwa die Zahl von drei bis fünf Millionen Einwohner umfassen“ – was die Auflösung Preußens voraussetzte), Reich.

Grundeinheit des friedlichen Zusammenlebens ist die Familie

Die Selbstverwaltung sollte nur auf der überschaubaren unteren Ebene von Gemeinde und Kreis durch direkte Wahlen zum Ausdruck kommen. Landtage und Reichstag sollten aus indirekten Wahlen hervorgehen. Das aktive Wahlrecht (in Gemeinden und Kreisen mit Zusatzstimmen der „Familienoberhäupter“ für jedes nicht wahlberechtigte Kind) war auf 21 Jahre festgelegt. Das passive Wahlrecht galt ab 27 Jahre, nicht jedoch für politische Beamte und „Waffenträger“. Mit bedeutsamen Vorschlags- und Kontrollfunktionen war der Reichsrat ausgestattet, zusammengesetzt aus den „Landesverwesern“ – wie „Reichsverweser“ die Interimsbezeichnung für „Landeshauptmann“ und „Reichspräsident“ –, dem Präsidenten des Reichstags und einer Reichswirtschaftskammer sowie von auf acht Jahre vom Reichspräsidenten (mit einer Amtszeit von zwölf Jahren) ernannten Reichsräten.

Schon 1939 hatte Moltke eine Denkschrift „Die kleinen Gemeinschaften“ verfaßt. Die „Kreisauer“ waren von personalistischen Ideen beseelt, wie sie in jüngerer Zeit in der Debatte um den Kommunitarismus als Alternative zu den Mechanismen des etablierten politischen Systems wiederkehrten. In den, auch mit dem Namen des jugendbewegten Pädagogen Adolf Reichwein verknüpften, dezidiert christlichen Bildungskonzepten der „Kreisauer“– der Staat sollte neben Familie und Kirche in den nichtkonfessionellen Schulen die religiöse Erziehung gewährleisten – flossen egalitäre und elitäre Ideen („Reichsuniversität“ zur Heranbildung von Spitzenbeamten) zusammen.

Im Teil „Wirtschaft“ sah der Entwurf allgemein „eine straffe Wirtschaftsführung des Staates“ und insbesondere die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien sowie – neben Betriebsgewerkschaften – eine „Deutsche Gewerkschaft“ vor. Indes stießen derlei sozialistische Ansätze im weiteren, vom liberalen „Freiburger Kreis“ um Franz Böhm und Walter Eucken geprägten, Umfeld der „Kreisauer“ auf Kritik und konkurierende Konzepte.

In den „Grundsätzen für die Neuordnung“ ist kein Hinweis auf die territoriale Gestalt des Reiches zu finden. Immerhin existiert eine noch im August 1943 überarbeitete Karte, die eine gewisse Vorstellung von der von den Kreisauern angestrebten dezentralen Neugliederung vermittelt. Zu den neuzuschaffenden etwa 20 Ländern des Reiches gehörten demnach außer „Baden-Elsaß“ und „Saar-Lothringen“ auch noch die „Ostmark (Österreich, einschließlich Nordtirol, mit angrenzendem Teil des Sudetenlandes, Oberkrain und Südsteiermark)“. Es ist fraglich, ob angesichts der Kriegslage im Sommer 1943 die Autoren – Anregungen für die unter Mitwirkung von Albrecht Haushofer erstellte Karte kamen von dem Jesuitenpater Hans-Lothar König als Geograph, von Hans Lukaschek als Verwaltungsfachmann sowie maßgeblich von Fritz-Dietlof von der Schulenburg – ein derartiges Reich noch für realistisch hielten. Moltke, der sich bereits, indes fern jeden Gedankens an Vertreibung, ein polnisches Schlesien vorstellen konnte, gehörte zweifellos nicht dazu.

Dem ehedem NS-begeisterten Kreisauer von der Schulenburg („Fritzi“) war es in hohem Maße zu verdanken, daß die personell verknüpften Widerstandskreise in Stauffenberg einen entschlossenen Protagonisten gewannen. Mit dem Scheitern des Attentats und des Putsches am 20. Juli zerbrachen die Hoffnungen aller Widerständler auf Rettung des Reiches und Regeneration des Volkes.

Die Erinnerung an den 20. Juli und das Vermächtnis des Kreisauer Kreises nimmt in den Gedenkriten der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor hohen Rang ein. Es bleibt zu fragen, inwieweit derlei Gedenken überhaupt noch zum ahistorischen Selbstbild der als Staatsziel proklamierten „modernen Einwanderungsgesellschaft“ passen. In Grundsatz 4 des hier skizzierten Dokuments heißt es, „die Grundeinheit friedlichen Zusammenlebens ist die Familie“. Und Grundsatz 7 lautete: „Die besondere Verantwortung und Treue, die jeder Einzelne seinem nationalen Ursprung, seiner Sprache, der geistigen und geschichtlichen Überlieferung seines Volkes schuldet, muß geachtet und geschützt werden.“