Sicherheit ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Kaum jemand mag es, sich unsicher zu fühlen. Unsere Aufmerksamkeit gilt evolutionär bedingt mehr den potentiellen Gefahren als den angenehmen Dingen im Leben. Das war und ist in gewissen Situationen auch vernünftig: Hätten unsere Vorfahren nicht so priorisiert und sich nicht eher ein paarmal zu oft als zu selten in Sicherheit gebracht, als sie etwa glaubten, einen Tiger hinter einem Busch bemerkt zu haben, wären wir wohl nie geboren worden. Die Menschheit wäre ausgestorben. Doch auch wenn diese Wahrnehmungsfokussierung einst überlebensnotwendig war, leitet sie uns heute oftmals in die Irre und läßt uns politischen Scharlatanen auf den Leim gehen, welche die Ängste der Menschen für ihr Machtstreben instrumentalisieren.
Unser Aufmerksamkeitsfilter, der vor allem Dramatisches und Negatives durchsickern läßt, ist auch der Grund, weshalb Medien hauptsächlich „bad news“ publizieren. Dramatische Schlagzeilen wie „25 Leute sind heute in Deutschland mit oder an Corona gestorben“ erwecken viel eher unsere Aufmerksamkeit als die Meldung „2,7 Millionen Menschen haben diesen Monat in Deutschland eine Corona-Infektion überlebt“.
Wir müssen uns der Möglichkeit bewußt sein, daß diese selektive Sinneswahrnehmung unsere Vorstellung von der Realität verzerrt. Es ist eine vordringliche Aufgabe, diese Realitätsverzerrung mit Hilfe unserer Vernunft unter Kontrolle zu bringen, da wir ansonsten Gefahr laufen, bestimmte Risiken zu überschätzen und andere medial weniger beachtete zu unterschätzen. Denn durch eine falsche Priorisierung unserer Mittel zur Bewältigung von Herausforderungen würden wir uns paradoxerweise größeren Gefahren aussetzen.
Diese Realitätsverzerrung machen sich politische Agitatoren schamlos zunutze. Obwohl die Welt noch nie so sicher und so wenig gewalttätig war wie heute, wird sie dennoch als immer instabiler und gefährlich dargestellt. So ist etwa die Zahl der aufgrund von Naturkatastrophen umgekommenen Menschen in den letzten 100 Jahren um weit mehr als die Hälfte gesunken. Dies ist bemerkenswert, weil die Weltbevölkerung in dieser Zeit um fünf Milliarden Menschen gestiegen ist. So gesehen sterben heute nur etwas mehr als ein Zwanzigstel der Menschen die vor 100 Jahren bei Naturkatastrophen umkamen.
Diese verblüffende Tatsache hat vor allem mit dem Wohlstand zu tun, der auf relativ freien Märkten erwirtschaftet wird. Je mehr Mittel den Menschen zur Verfügung stehen, desto besser können sie sich gegen derartige Unglücke wappnen. Sie bauen stabilere Häuser, die Stürmen und Erdbeben besser standhalten, sie errichten Staudämme und Kanäle gegen Überschwemmungen, installieren Klimaanlagen und Heizungen, um sich gegen Hitzetage und die kalte Jahreszeit zu wappnen usw. Den meisten Menschen ist dieser Fortschritt kognitiv entgangen, genaugenommen wissen das gemäß Umfragen des Statistikers Hans Rosling gerade einmal zehn Prozent aller Befragten.
2016 war auch die Anzahl Gefechtstoter pro Million Menschen auf einem Rekordtief (12 Tote), was man kaum glauben kann, wenn man sich dem täglichen Nachrichtenstrom aussetzt. 1986 gab es auf der Welt noch 64.000 nukleare Sprengköpfe, heute gibt es in militärischen Einrichtungen nur noch 15.000, was natürlich immer noch viel zuviel ist, aber die Entwicklung ging zumindest in die richtige Richtung.
Trotz dieser gewaltigen Erfolge tut ein Großteil der Medien und Politiker so, als werde alles immer schlimmer und unsicherer, damit sie anschließend darauf ihre politischen Programme aufbauen können, in denen es seltsamerweise praktisch immer darum geht, die Macht des Staates (und damit auch ihre eigene) noch weiter auszubauen. Auch wenn weltweit 16mal mehr Menschen an Kälte als an Hitze sterben, warnt man in apokalyptischer Panikmache vor einer „menschengemachten Klimaerwärmung“, die man um jeden Preis verhindern und deshalb auch diverse Freiheitsrechte beschneiden und neue Steuern einführen müsse.
Bei Pandemien ist eine ähnliche Realitätsverzerrung auszumachen. Seit der Spanischen Grippe 1918 sind nicht nur die wirtschaftlichen Schäden in Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sondern auch die Todesraten bei großen Krankheitswellen immer weiter zurückgegangen. Ein Grund dafür ist die bessere Versorgung mit Gesundheitsgütern und die bessere Ernährung aufgrund des höheren Wohlstands. Ein weiterer Faktor ist die Globalisierung und der erhöhte internationale Reiseverkehr. Fünf britische Forscher um den Epidemiologen Robin N. Thompson wiesen 2019 darauf hin, daß einige Erregerstämme mit niedrigem Virulenzfaktor dazu beitragen, Immunität gegen verwandte hochvirulente Stämme zu schaffen. Häufige internationale Reisen können deshalb bewirken, daß diese niedrigvirulenten Erreger auf eine Weise verbreitet werden, die die globale Resistenz gegen virulentere Stämme stärkt. Anstatt die Ausbreitungsrisiken zu erhöhen, würde eine stärker globalisierte Welt und eine vermehrte internationale Reisetätigkeit die Wahrscheinlichkeit einer schwerwiegenden Pandemie verringern.
Dennoch wurde entgegen diesen Fakten von einer Vielzahl von Bürgern begrüßt, daß der Staat im Namen des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit plötzlich radikale Maßnahmen zur Bekämpfung eines historisch verhältnismäßig harmlosen Virus erläßt, die nicht nur diesen gesundheitsstärkenden Virenaustausch unterbinden mit einer massiven Einschränkung der Reisetätigkeit durch Grenzschließungen, Zertifikatszwang, Impfzwang, Maskenzwang, sondern auch den Wohlstand reduziert etwa durch Lockdowns, Verschuldung und Inflation. Damit wurden unsere Handlungsmöglichkeiten bei künftigen Herausforderungen reduziert. Wir müssen verstehen, daß der Staat die Welt durch seine Interventionen oft unsicherer macht.
Auch die Gefahr des Terrorismus wird regelmäßig für massive Staatsausbauprogramme wie Massenüberwachung mißbraucht. Obwohl 2016 lediglich 0,05 Prozent aller Todesfälle weltweit auf sein Konto gingen, führen medial stark beachtete Einzelfälle dazu, daß eine ganze Gesellschaft angstgesteuert entscheidende Freiheitsrechte wie die Privatsphäre über Bord wirft. Wenn hier die Vernunft am Werk wäre, würde man das Risiko nicht daran bemessen, wie groß die eigene Angst davor ist, sondern wie wahrscheinlich ein solches Ereignis tatsächlich ist und wie sehr der Einzelne dieser Gefahr ausgesetzt wäre. Außerdem gälte es mit einzubeziehen, welche Risiken eine gesellschaftliche Totalüberwachung im Namen der Sicherheit mit sich brächte. Ein Blick nach China offenbart keine paradiesischen Zustände. Viel eher öffnet es einer enthemmten Unterdrückungs- und Machtpolitik Tür und Tor.
Die Forschungsliteratur zeigt, daß Unsicherheit nicht nur unsere Solidarität gegenüber der eigenen Gruppe stärkt, sondern auch zu einer rigiden Gruppennormen-Konformität und einer Ablehnung von Außenseitern führt. Unsicherheit bewirkt, daß sich Menschen vermehrt starke, autoritäre Führer wünschen, die sie vermeintlich vor gefährlichen Außenseitern beschützen, durch die man sich in der persönlichen Sicherheit bedroht sieht. Was liegt also für machthungrige Politiker näher, als die allgemeine Unsicherheit in der Bevölkerung zu schüren, indem man ihnen Gruselgeschichten auftischt und das Negative überbetont, indem man die Terror- oder Klimagefahr überhöht oder die Möglichkeit, durch einen Virus zu sterben, als viel größer darstellt, als es die Statistiken tatsächlich erlauben würden?
Wenn die Politik im Namen der Sicherheit bei irgendwelchen Ereignissen sofort drastische Maßnahmen ergreifen will, ist Skepsis gefragt. Dies gilt um so mehr, weil einmal erlassene Maßnahmen kaum je wieder vollständig zurückgenommen, sondern zumindest partiell langfristig Bestand haben werden. Fragen Sie nach den Daten, den Fakten und den tatsächlichen Risiken. Vielleicht ist es lohnenswert, sich in solchen Momenten der Machtübertragung vom Einzelnen hin zum Staat zu vergegenwärtigen, ob Politiker tatsächlich jemals erfolgreicher als Nicht-Politiker darin waren, Probleme zu lösen und ob es klug ist, Ihre Freiheit unter dem Vorwand der Sicherheit aufzugeben.
Olivier Kessler, Jahrgang 1986, ist Ökonom, Publizist und Direktor des Liberalen Instituts in Zürich sowie Präsident des Vereins zur Abschaffung der Medienzwangsgebühren. Er vöffentlichte Beiträge in der Neuen Zürcher Zeitung und der Weltwoche.