© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

Marxistischer Konservatismus
Im Dienste seiner Majorität: Vor hundert Jahren erschien Georg Lukács’ philosophisches Hauptwerk „Geschichte und Klassenbewußtsein“
Florian Werner

Der große Knall blieb aus. Nachdem sich der Qualm über den Barrikaden von Berlin, München und Budapest verzogen hatte und der Gefechtslärm an den Weichselufern vor Warschau verstummte, wurde klar, daß die proletarische Revolution vorerst verloren war. 1919 scheiterten Aufstände in Preußen, Bayern und Ungarn. Und 1920 mußte sich die Rote Armee schließlich aus Polen zurückziehen. Die kommunistische Weltrevolution erschien für einen Augenblick lang wie eine aussichtslose Revolte.

In den Reihen der Bolschewiki hatte man sich ursprünglich ein Ausgreifen der russischen Oktoberrevolution auf den Rest Europas erhofft. Vor allem auf den deutschen Matrosen und Fabrikarbeitern lagen große Erwartungen. Doch diese Hoffnungen wurden mit der Niederschlagung des Spartakusaufstandes und der Münchner Räterepublik schwer enttäuscht. Dutzende Revolutionäre wurden in der Folge verfolgt und hingerichtet – darunter Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Erich Mühsam und Eugen Leviné. Letzterer faßte die Situation kurz vor seiner Erschießung im Gefängnis Stadelheim ganz trocken in der Feststellung zusammen: „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.“

Einer von ihnen konnte sich im allgemeinen Tumult der Klassenkämpfe allerdings ins umtriebige Wien absetzen. Der Schriftsteller und Philosoph Georg Lukács, ein Mittdreißiger mit stets sorgfältig nach hinten gekämmten Haaren und einer Zigarette zwischen den Fingern, war Anfang der 1920er auf der Flucht in der Donaumetropole angekommen. Die Stadt war seinerzeit ein pulsierendes Zentrum europäischer Kultur. Zu ihren illustren Einwohnern gehörten neben Denkern wie Sigmund Freud und Ludwig Wittgenstein auch der Literaturkritiker Karl Kraus oder auch der Schriftsteller Robert Musil.

Mit der Methode von Marx gegen die marxistische Weltanschauung

Für Lukács war das alles ein denkbar schriller Kontrast, hatte der Kaufmannssohn doch noch vor wenigen Wochen als Volkskommissar für Bildung die Truppen der ungarischen Räterepublik an der Front besucht. Der im Jahr 1914 mit der literaturtheoretischen Schrift „Theorie des Romans“ schlagartig berühmt gewordene Intellektuelle setzte die Parteiarbeit auch in Österreich weiter fort. Gleichzeitig dachte er aber darüber nach, weshalb die Revolution in Europa so krachend in sich zusammengebrochen war. Heraus kam dabei die 1923 veröffentlichte Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewußtsein“.

Statt die Kritik aller bestehenden Verhältnisse in die Tat umzusetzen, lag die sozialistische Revolution nämlich selbst in tausend Trümmern. Ihre schillerndsten Ideen hatten sämtlich Schiffbruch erlitten. Die „Partei neuen Typus“ verkehrte sich in einen muffigen Bürokratenapparat. Aus dem Ziel der Weltrevolution wurde die Verlegenheitslösung „Sozialismus in einem Land“. Und die „Diktatur der Demokratie“ entpuppte sich schlicht und einfach als Diktatur. Unter diesen Umständen mußte die intellektuelle Parteinahme für den Marxismus wie eine contradictio in adjecto – ein Selbstwiderspruch – wirken.

In seinem Jugendwerk „Geschichte und Klassenbewußtsein“ fand der bekennende Marxist Lukács eine erstaunliche Lösung für dieses Problem. „Angenommen – wenn auch nicht zugegeben –, die neuere Forschung hätte die sachliche Unrichtigkeit sämtlicher einzelnen Aussagen von Marx einwandfrei nachgewiesen, so könnte jeder ernsthafte ‘orthodoxe’ Marxist alle diese neuen Resultate bedingungslos anerkennen, sämtliche einzelnen Thesen von Marx verwerfen – ohne für eine Minute seine marxistische Orthodoxie aufgeben zu müssen.“ Denn für Lukács bestand der entscheidende Charakterzug des Marxismus gar nicht im Inhalt seiner verschiedenen Thesen, sondern in der spezifischen Methode auf dem Weg zu diesen Thesen.

Der Marxismus also nur eine Methode statt einer Weltanschauung? Mit dieser einfachen Überlegung hatte Lukács theoretisch auch die meisten seiner eigenen Positionen preisgegeben. Der Materialismus als Philosophie? Ein schlecht kaschierter Dogmatismus. Der Kapitalismus als historische Vorstufe des Kommunismus? Ein intellektuelles Luftschloß. Die Partei als Vorreiter der Arbeiterklasse? Ein bürokratischer Esel.

Nach unzähligen Niederlagen auf dem europäischen Kontinent war diese Abrechnung mit dem weltanschaulichen Marxismus eine besonders gewitzte Form der Schadensabwicklung. Denn anstatt sich im mühsamen Klein-Klein politischer Tagesfragen zu verheddern – war nur die Märzaktion ein Fehler oder auch schon der Spartakusaufstand? –, verabschiedete sich Lukács einfach von der gesamten marxistischen Weltanschauung. Übrigbleiben sollte nur noch eine an der Philosophie Hegels geschulte Kritik, wie Marx sie in seiner Studie „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in seinen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ oder auch in den Bänden von „Das Kapital“ entwickelt hatte.

Mit diesem intellektuellen Winkelzug verschaffte sich Lukács auch in den gesellschaftlichen Kämpfen seiner eigenen Zeit die nötige Beinfreiheit. Denn nicht nur die Konterrevolution hielt mit Mussolinis Marsch auf Rom oder der Machtübernahme durch General Miguel Primo de Rivera in Spanien Waffenschau. Auch der Parteiapparat der Bolschewiki in Moskau rückte den Revolutionären am Boden immer forscher auf den Leib. Mit Karl Radek und Grigori Sinowjew an der Spitze der lapidar „Komintern“ genannten Dritten Internationale verwandelten sich die Kommunistischen Parteien von Madrid bis Warschau mit rasanter Geschwindigkeit in Satellitenvereine der jungen Sowjetunion. Zweifel am Kurs der Komintern wurden immer öfter mit Schmutzkampagnen geahndet. Auch altgediente Kommunisten wie der Rechtsanwalt und einstige Vertraute Rosa Luxemburgs Paul Levi wurden zur Strafe für ihre allzu laute Kritik schnurstracks aus der Partei geworfen.

Lukács gab seinem Kommunismus eine konservative Wendung

Was sich aus dieser Revision des Marxismus für Lukács ergibt, wirkt auf den ersten Blick aber einigermaßen verblüffend. „Geschichte und Klassenbewußtsein“ liest sich streckenweise nämlich gerade so wie ein Leitartikel aus der Parteizeitung der KPD Die Rote Fahne – von deren Stil sich der Philosoph doch eben noch emanzipieren wollte. Dieses Hin und Her wird besonders in dem Aufsatz „Methodisches zur Organisationsfrage“ deutlich, in welchem Lukács den bürokratischen Parteiapparat der Kommunisten ganz wie die weltanschaulichen Klassiker zu einer Vorhut der Arbeiterklasse stilisiert. 

„Die organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewußtsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne; damit in jedem Ereignis des alltäglichen Lebens jene Stellungnahme, die das Interesse der Gesamtklasse erfordert, klar und für jeden Arbeiter verständlich in Erscheinung trete; damit für die ganze Klasse das eigene Dasein als Klasse ins Bewußtsein gehoben werde“, schreibt Lukács in seinem Organisationsaufsatz. Wie in der Prawda stehen auf der einen Seite die geschulten Revolutionäre, während auf der anderen die von der Partei lernende Arbeiterschaft auf ihre nächste Lektion wartet. 

Gleichzeitig aber bestimmt Lukács die Partei als den Ort, in dem sich das aus den Zwängen der kapitalistischen Produktionsweise herausschälende „Reich der Freiheit“ zuerst verwirklicht. „Sind die menschewistischen Parteien der organisatorische Ausdruck für diese ideologische Krise des Proletariats, so ist die kommunistische Partei ihrerseits die organisatorische Form für den bewußten Ansatz zu diesem Sprung und auf diese Weise der erste bewußte Schritt dem Reich der Freiheit entgegen.“

Freiheit – also eben die Qualität, die der Parteibürokratie der 1920er Jahre schleichend abhanden kommen wird. Lukács versucht, sie auf den einzelnen Seiten von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ immer wieder aufs neue gegen den offiziösen Parteikauderwelsch zu verteidigen. Dabei taktiert, manövriert und laviert er vorsichtig mit seinen Begriffen. Dieser Umstand verändert aber den Charakter des Marxismus, den er vertritt. Dieser wird filigran, sensibel und präzis – vor allem aber wird er konservativ.

Lukács setzte sich in seinem Schaffen niemals von den Schriftstellern und Philosophen des bürgerlichen Zeitalters ab, sondern verstand sich vielmehr als Erbverwalter und Fortsetzer der Ideen von Schiller, Fontane, Kant und Schubert. Frei nach dem Motto „Bewahrung durch Entwicklung“ untermauerte er seine theoretischen Streifzüge zur Arbeiterbewegung immer wieder mit der Wiener Klassik, der Klassischen Deutschen Philosophie und dem Bildungsroman. Mit dem literarischen Großbürger seiner Zeit, Thomas Mann, stand er deshalb zeitlebens auf freundschaftlichem Fuße. Die beiden verband eine aufrichtige Bewunderung füreinander. In seinem „Zauberberg“ soll Mann Lukács sogar in der Figur des sophistischen Naphta einzufangen versucht haben.

Bei einer derart schwer zu fassenden Gedankenakrobatik drängt sich unfreiwillig der Gedanke an den deutschamerikanischen konservativen Philosophieprofessor Leo Strauss auf, der in seinem Buch „Verfolgung und die Kunst des Schreibens“ von 1952 die These vertreten hatte, daß alle Philosophen ihre Überlegungen zur Politik auf die eine oder andere Art und Weise verschlüsseln müssen, um der Zensur durch die herrschende Klasse zu entgehen. Auch der marxistisch inspirierte Konservatismus oder konservativ motivierte Marxismus eines Georg Lukács darf als eine solche ideelle Pirouette zum Schutz der Philosophie gedeutet werden. Ihre gedankliche Bewegung nachvollziehen heißt hundert Jahre nach „Geschichte und Klassenbewußtsein“ den Marxismus unter neuen Vorzeichen kennenlernen.